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Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859.

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zu befehlen auf einen verständigen Grund stützen, und es müssen die Unter-
thanen eine zureichende Ursache des Gehorchens haben. Diese Begründung
in etwas Anderem, als in der Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes zu
finden, ist unmöglich. Ein Befehl ohne bestimmten Zweck ist rohe Willkühr,
wo nicht Wahnsinn; ein Gehorsam ohne Zweck aber völlige Verläugnung
der Persönlichkeit und der sittlichen Pflicht. -- Haller seinerseits erklärt das
Zustandekommen des Staates aus einem Aggregate von einzelnen Verträgen,
bei welchem Jeder der Betheiligten seinen besondern Zweck habe. Abgesehen
nun davon, daß diese Auffassung höchstens auf den Patrimonialstaat Haller's
paßt, und schon nicht auf seinen eigenen Priesterstaat oder seine freien Ge-
meinden: so ist es überhaupt eine ganz willkührliche Annahme, daß in Be-
ziehung auf den Staatszweck die Auffassungen thatsächlich ganz auseinander-
laufen und auseinanderlaufen müssen. Die Erfahrung zeigt vielmehr, daß
sehr große Einigkeit herrschen kann, was denn auch ganz begreiflich ist, weil
diese Forderungen aus dem ganzen Gesittigungsstande hervorgehen. Es
mag sein, daß sich nicht alle einzelnen Individuen des Staatszweckes mit
gleicher Klarheit bewußt sind oder gar eine schulgerechte Bezeichnung desselben
zu geben vermöchten: damit ist aber gar wohl eine allgemeine Ueberein-
stimmung über das, was vom Staate zu verlangen sei, vereinbar. Selbst
bei einem aus einem Aggregate von Privatverträgen bestehenden Patri-
monialstaate ist ein völliges Auseinanderlaufen der Zwecke unmöglich, und
auch ihm liegen einige gemeinschaftliche Zwecke zu Grunde, namentlich gegen-
seitiger Schutz und wirthschaftliche Vortheile.
2) Mit besonderer Kraft, wenn schon in anderer Enkwicklung als hier
geschieht, hebt die Nothwendigkeit der Einheit im Staate hervor: Rößler,
C., System der Staatslehre. Leipzig, 1857.
3) Ueber die verschiedene Möglichkeit der menschlichen Lebenszwecke sehe
man namentlich: Welker, C. Th., Letzte Gründe von Recht, Staat und
Strafe. Gießen, 1813. -- Duden, G., Ueber die wesentlichen Verschieden-
heiten der Staaten und die Strebungen der menschlichen Natur. Köln, 1822.
-- Vollgraff, C., Die Systeme der praktischen Politik. Gießen, 1828.
(Letzterer freilich wunderlich übertreibend.)
4) Vergl. Dupont-White, L'individu et l'etat. Ed. 2. Par., 1858.
5) Es kann nur als ein Beweis verkehrten Scharfsinnes betrachtet
werden, wenn der Staat als ein Uebel erklärt wird, (so von K. S. Za-
chariä), oder wenn die Staatlosigkeit, Anarchie, (von Proudhon), als letztes
Ziel gesetzt ist. Daß der Staat die Willkühr der Einzelnen beschränkt, ist
ganz richtig; allein wenn diese Beschränkung, wie es sein soll, nur gegen
unvernünftige und ungesellschaftliche Willkühr gerichtet ist, so ist sie weit
entfernt ein Uebel zu sein, vielmehr ein großes Glück. Auch kann die Be-
reithaltung einer Gewalt zur Durchführung der nöthigen Beschränkung nicht
zu befehlen auf einen verſtändigen Grund ſtützen, und es müſſen die Unter-
thanen eine zureichende Urſache des Gehorchens haben. Dieſe Begründung
in etwas Anderem, als in der Verfolgung eines gemeinſamen Zweckes zu
finden, iſt unmöglich. Ein Befehl ohne beſtimmten Zweck iſt rohe Willkühr,
wo nicht Wahnſinn; ein Gehorſam ohne Zweck aber völlige Verläugnung
der Perſönlichkeit und der ſittlichen Pflicht. — Haller ſeinerſeits erklärt das
Zuſtandekommen des Staates aus einem Aggregate von einzelnen Verträgen,
bei welchem Jeder der Betheiligten ſeinen beſondern Zweck habe. Abgeſehen
nun davon, daß dieſe Auffaſſung höchſtens auf den Patrimonialſtaat Haller’s
paßt, und ſchon nicht auf ſeinen eigenen Prieſterſtaat oder ſeine freien Ge-
meinden: ſo iſt es überhaupt eine ganz willkührliche Annahme, daß in Be-
ziehung auf den Staatszweck die Auffaſſungen thatſächlich ganz auseinander-
laufen und auseinanderlaufen müſſen. Die Erfahrung zeigt vielmehr, daß
ſehr große Einigkeit herrſchen kann, was denn auch ganz begreiflich iſt, weil
dieſe Forderungen aus dem ganzen Geſittigungsſtande hervorgehen. Es
mag ſein, daß ſich nicht alle einzelnen Individuen des Staatszweckes mit
gleicher Klarheit bewußt ſind oder gar eine ſchulgerechte Bezeichnung desſelben
zu geben vermöchten: damit iſt aber gar wohl eine allgemeine Ueberein-
ſtimmung über das, was vom Staate zu verlangen ſei, vereinbar. Selbſt
bei einem aus einem Aggregate von Privatverträgen beſtehenden Patri-
monialſtaate iſt ein völliges Auseinanderlaufen der Zwecke unmöglich, und
auch ihm liegen einige gemeinſchaftliche Zwecke zu Grunde, namentlich gegen-
ſeitiger Schutz und wirthſchaftliche Vortheile.
2) Mit beſonderer Kraft, wenn ſchon in anderer Enkwicklung als hier
geſchieht, hebt die Nothwendigkeit der Einheit im Staate hervor: Rößler,
C., Syſtem der Staatslehre. Leipzig, 1857.
3) Ueber die verſchiedene Möglichkeit der menſchlichen Lebenszwecke ſehe
man namentlich: Welker, C. Th., Letzte Gründe von Recht, Staat und
Strafe. Gießen, 1813. — Duden, G., Ueber die weſentlichen Verſchieden-
heiten der Staaten und die Strebungen der menſchlichen Natur. Köln, 1822.
Vollgraff, C., Die Syſteme der praktiſchen Politik. Gießen, 1828.
(Letzterer freilich wunderlich übertreibend.)
4) Vergl. Dupont-White, L’individu et l’état. Éd. 2. Par., 1858.
5) Es kann nur als ein Beweis verkehrten Scharfſinnes betrachtet
werden, wenn der Staat als ein Uebel erklärt wird, (ſo von K. S. Za-
chariä), oder wenn die Staatloſigkeit, Anarchie, (von Proudhon), als letztes
Ziel geſetzt iſt. Daß der Staat die Willkühr der Einzelnen beſchränkt, iſt
ganz richtig; allein wenn dieſe Beſchränkung, wie es ſein ſoll, nur gegen
unvernünftige und ungeſellſchaftliche Willkühr gerichtet iſt, ſo iſt ſie weit
entfernt ein Uebel zu ſein, vielmehr ein großes Glück. Auch kann die Be-
reithaltung einer Gewalt zur Durchführung der nöthigen Beſchränkung nicht
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[72/0086] ¹⁾ zu befehlen auf einen verſtändigen Grund ſtützen, und es müſſen die Unter- thanen eine zureichende Urſache des Gehorchens haben. Dieſe Begründung in etwas Anderem, als in der Verfolgung eines gemeinſamen Zweckes zu finden, iſt unmöglich. Ein Befehl ohne beſtimmten Zweck iſt rohe Willkühr, wo nicht Wahnſinn; ein Gehorſam ohne Zweck aber völlige Verläugnung der Perſönlichkeit und der ſittlichen Pflicht. — Haller ſeinerſeits erklärt das Zuſtandekommen des Staates aus einem Aggregate von einzelnen Verträgen, bei welchem Jeder der Betheiligten ſeinen beſondern Zweck habe. Abgeſehen nun davon, daß dieſe Auffaſſung höchſtens auf den Patrimonialſtaat Haller’s paßt, und ſchon nicht auf ſeinen eigenen Prieſterſtaat oder ſeine freien Ge- meinden: ſo iſt es überhaupt eine ganz willkührliche Annahme, daß in Be- ziehung auf den Staatszweck die Auffaſſungen thatſächlich ganz auseinander- laufen und auseinanderlaufen müſſen. Die Erfahrung zeigt vielmehr, daß ſehr große Einigkeit herrſchen kann, was denn auch ganz begreiflich iſt, weil dieſe Forderungen aus dem ganzen Geſittigungsſtande hervorgehen. Es mag ſein, daß ſich nicht alle einzelnen Individuen des Staatszweckes mit gleicher Klarheit bewußt ſind oder gar eine ſchulgerechte Bezeichnung desſelben zu geben vermöchten: damit iſt aber gar wohl eine allgemeine Ueberein- ſtimmung über das, was vom Staate zu verlangen ſei, vereinbar. Selbſt bei einem aus einem Aggregate von Privatverträgen beſtehenden Patri- monialſtaate iſt ein völliges Auseinanderlaufen der Zwecke unmöglich, und auch ihm liegen einige gemeinſchaftliche Zwecke zu Grunde, namentlich gegen- ſeitiger Schutz und wirthſchaftliche Vortheile. ²⁾ Mit beſonderer Kraft, wenn ſchon in anderer Enkwicklung als hier geſchieht, hebt die Nothwendigkeit der Einheit im Staate hervor: Rößler, C., Syſtem der Staatslehre. Leipzig, 1857. ³⁾ Ueber die verſchiedene Möglichkeit der menſchlichen Lebenszwecke ſehe man namentlich: Welker, C. Th., Letzte Gründe von Recht, Staat und Strafe. Gießen, 1813. — Duden, G., Ueber die weſentlichen Verſchieden- heiten der Staaten und die Strebungen der menſchlichen Natur. Köln, 1822. — Vollgraff, C., Die Syſteme der praktiſchen Politik. Gießen, 1828. (Letzterer freilich wunderlich übertreibend.) ⁴⁾ Vergl. Dupont-White, L’individu et l’état. Éd. 2. Par., 1858. ⁵⁾ Es kann nur als ein Beweis verkehrten Scharfſinnes betrachtet werden, wenn der Staat als ein Uebel erklärt wird, (ſo von K. S. Za- chariä), oder wenn die Staatloſigkeit, Anarchie, (von Proudhon), als letztes Ziel geſetzt iſt. Daß der Staat die Willkühr der Einzelnen beſchränkt, iſt ganz richtig; allein wenn dieſe Beſchränkung, wie es ſein ſoll, nur gegen unvernünftige und ungeſellſchaftliche Willkühr gerichtet iſt, ſo iſt ſie weit entfernt ein Uebel zu ſein, vielmehr ein großes Glück. Auch kann die Be- reithaltung einer Gewalt zur Durchführung der nöthigen Beſchränkung nicht

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Zitationshilfe: Mohl, Robert von: Encyklopädie der Staatswissenschaften. Tübingen, 1859, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mohl_staatswissenschaften_1859/86>, abgerufen am 27.11.2024.