Rest von der Pest decimirt. Diese Stadt hat eine maleri- sche und feste Lage auf einem weit ins Meer hineinragen- den Felsen; die Ruinen von fünf byzantinischen Kirchen mit zierlichen Kuppeln zeigten, was der Ort einst gewesen, und die Moschee am Eingang der Stadt sprach davon, durch wen sie geworden, was sie ist.
Von Varna an durchzog ich ein Land, welches mir meist schon bekannt war; in Schumla hatte ich ein zier- liches Haus, in welchem Fürst Milosch früher gewohnt hatte. Hier empfing uns Sayd-Pascha, der Muschier von Silistria, Pascha von drei Roßschweifen und Vezier, mit der ausgezeichnetsten Artigkeit; wir fuhren mit ihm in seinem Wagen nach Rustschuk, und weil dort noch kurz zuvor täglich 60 bis 80 Menschen an der Pest starben, so hielten wir eine nach türkischen Begriffen sehr strenge Ab- sperrung in seinem eigenen Konak.
Von Schumla fuhren wir mit unserm Pascha die Do- nau schnell hinab, verweilten in Silistria und begaben uns mit dem Vezier auf einen Pachthof bei Rassova, der ihm dort gehört. Unterwegs machte der Pascha die Honneurs; alle Abend waren wir zum Diner bei ihm geladen, wo "alla franca", d. h. mit Messern und Gabeln (und nur confidentiellement zuweilen mit den Fingern), zugelangt wurde. Der Champagner fehlte nicht; an Essen war eine entsetzliche Fülle, die Zahl der Schüsseln endlos und wohl die Hälfte davon süß. Dabei saß ein Arnaut in einen Winkel gekauert, der die Romaika, eine Art Guitarre mit sehr langem, dünnem Halse, spielte und dabei eine Liebes- geschichte sang, oder vielmehr aus allen Kräften seiner Lunge schrie, die zu Sultan Urchan's Zeiten, vor Eroberung von Konstantinopel, sehr anziehend gewesen sein mochte. Wäh- rend der Mann mit angeschwollenen Stirnadern musicirte, tanzten Zigeunerjungen mit Castagnetten in seltsamen, bet- telhaften Anzügen und mit abenteuerlichen Verdrehungen ihrer Glieder. Diese ganze Scene spielte in einem halb erleuchteten Zimmer, welches einer recht eingewohnten Ka-
Reſt von der Peſt decimirt. Dieſe Stadt hat eine maleri- ſche und feſte Lage auf einem weit ins Meer hineinragen- den Felſen; die Ruinen von fuͤnf byzantiniſchen Kirchen mit zierlichen Kuppeln zeigten, was der Ort einſt geweſen, und die Moſchee am Eingang der Stadt ſprach davon, durch wen ſie geworden, was ſie iſt.
Von Varna an durchzog ich ein Land, welches mir meiſt ſchon bekannt war; in Schumla hatte ich ein zier- liches Haus, in welchem Fuͤrſt Miloſch fruͤher gewohnt hatte. Hier empfing uns Sayd-Paſcha, der Muſchier von Siliſtria, Paſcha von drei Roßſchweifen und Vezier, mit der ausgezeichnetſten Artigkeit; wir fuhren mit ihm in ſeinem Wagen nach Ruſtſchuk, und weil dort noch kurz zuvor taͤglich 60 bis 80 Menſchen an der Peſt ſtarben, ſo hielten wir eine nach tuͤrkiſchen Begriffen ſehr ſtrenge Ab- ſperrung in ſeinem eigenen Konak.
Von Schumla fuhren wir mit unſerm Paſcha die Do- nau ſchnell hinab, verweilten in Siliſtria und begaben uns mit dem Vezier auf einen Pachthof bei Raſſova, der ihm dort gehoͤrt. Unterwegs machte der Paſcha die Honneurs; alle Abend waren wir zum Diner bei ihm geladen, wo „alla franca“, d. h. mit Meſſern und Gabeln (und nur confidentiellement zuweilen mit den Fingern), zugelangt wurde. Der Champagner fehlte nicht; an Eſſen war eine entſetzliche Fuͤlle, die Zahl der Schuͤſſeln endlos und wohl die Haͤlfte davon ſuͤß. Dabei ſaß ein Arnaut in einen Winkel gekauert, der die Romaika, eine Art Guitarre mit ſehr langem, duͤnnem Halſe, ſpielte und dabei eine Liebes- geſchichte ſang, oder vielmehr aus allen Kraͤften ſeiner Lunge ſchrie, die zu Sultan Urchan's Zeiten, vor Eroberung von Konſtantinopel, ſehr anziehend geweſen ſein mochte. Waͤh- rend der Mann mit angeſchwollenen Stirnadern muſicirte, tanzten Zigeunerjungen mit Caſtagnetten in ſeltſamen, bet- telhaften Anzuͤgen und mit abenteuerlichen Verdrehungen ihrer Glieder. Dieſe ganze Scene ſpielte in einem halb erleuchteten Zimmer, welches einer recht eingewohnten Ka-
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Reſt von der Peſt decimirt. Dieſe Stadt hat eine maleri-
ſche und feſte Lage auf einem weit ins Meer hineinragen-
den Felſen; die Ruinen von fuͤnf byzantiniſchen Kirchen
mit zierlichen Kuppeln zeigten, was der Ort einſt geweſen,
und die Moſchee am Eingang der Stadt ſprach davon,
durch wen ſie geworden, was ſie iſt.
Von Varna an durchzog ich ein Land, welches mir
meiſt ſchon bekannt war; in Schumla hatte ich ein zier-
liches Haus, in welchem Fuͤrſt Miloſch fruͤher gewohnt
hatte. Hier empfing uns Sayd-Paſcha, der Muſchier
von Siliſtria, Paſcha von drei Roßſchweifen und Vezier,
mit der ausgezeichnetſten Artigkeit; wir fuhren mit ihm
in ſeinem Wagen nach Ruſtſchuk, und weil dort noch kurz
zuvor taͤglich 60 bis 80 Menſchen an der Peſt ſtarben, ſo
hielten wir eine nach tuͤrkiſchen Begriffen ſehr ſtrenge Ab-
ſperrung in ſeinem eigenen Konak.
Von Schumla fuhren wir mit unſerm Paſcha die Do-
nau ſchnell hinab, verweilten in Siliſtria und begaben uns
mit dem Vezier auf einen Pachthof bei Raſſova, der ihm
dort gehoͤrt. Unterwegs machte der Paſcha die Honneurs;
alle Abend waren wir zum Diner bei ihm geladen, wo
„alla franca“, d. h. mit Meſſern und Gabeln (und nur
confidentiellement zuweilen mit den Fingern), zugelangt
wurde. Der Champagner fehlte nicht; an Eſſen war eine
entſetzliche Fuͤlle, die Zahl der Schuͤſſeln endlos und wohl
die Haͤlfte davon ſuͤß. Dabei ſaß ein Arnaut in einen
Winkel gekauert, der die Romaika, eine Art Guitarre mit
ſehr langem, duͤnnem Halſe, ſpielte und dabei eine Liebes-
geſchichte ſang, oder vielmehr aus allen Kraͤften ſeiner Lunge
ſchrie, die zu Sultan Urchan's Zeiten, vor Eroberung von
Konſtantinopel, ſehr anziehend geweſen ſein mochte. Waͤh-
rend der Mann mit angeſchwollenen Stirnadern muſicirte,
tanzten Zigeunerjungen mit Caſtagnetten in ſeltſamen, bet-
telhaften Anzuͤgen und mit abenteuerlichen Verdrehungen
ihrer Glieder. Dieſe ganze Scene ſpielte in einem halb
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/170>, abgerufen am 26.11.2024.
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