lichst ferne Zukunft zurückzudrängen. Seit dem Frieden von Kutahja hatten die Waffen in diesen Ländern geruht, und man forderte allseitig und bestimmt von der Pforte, wie von Mehmet-Aly, in dem jetzt bestehenden Zustande der Dinge zu verharren, vielleicht ohne genau zu wissen, ob dieser Zustand erträglich und haltbar sei, und ob er nicht auf die Dauer beide Partheien unausweichlich zu Grunde richten müsse. Wie sich in der Chemie zwei Stoffe vollkommen neutralisiren, so waren alle Kräfte der Türkei durch Aegypten, alle Kräfte Aegyptens durch die Türkei absorbirt, und beide Staaten nach Außen fast vernichtet. Die Donau, Schumla, Konstantinopel selbst waren ohne Vertheidiger, Alexandria und Cairo von Jnvaliden besetzt, während in einem Winkel Kurdistans und Syriens mäch- tige Heere einander gewaffnet gegenüber standen.
Die Natur selbst widersetzt sich allen großen Anhäu- fungen von Menschen an einem Orte: in kultivirten Län- dern sind sie schwierig und kostspielig, in Ländern, wie diese, mörderisch und auf die Dauer unerschwinglich. Schreck- lich war daher der Druck, welcher seit Jahren auf diesen unglücklichen Provinzen lastete; aber auch das ganze Reich seufzte unter der Bürde, ein großes Heer in fernen Gegen- den ohne irgend einen andern Grund zu unterhalten, als weil eben ein mächtiger Nachbar dort auch ein Heer un- terhielt. Es sind in sieben Jahren hier mindestens 50,000 Rekruten ausgehoben und begraben, 100 Millionen impro- duktiv verausgabt und die Ernte ganzer Provinzen verzehrt, nur, weil der Gegner denselben Aufwand machte. Wer allen diesen gewaltsamen Zuständen nahe stand, und über- haupt mit offenen Augen zu sehen wußte, der konnte sich bald überzeugen, daß der status quo den Partheien viel- leicht ferner noch vom Frühjahr bis zum Herbst, oder vom Herbst bis zum Frühjahr aufgedrungen werden könne, daß aber auf die Dauer ein vermittelndes Einschreiten der eu- ropäischen Mächte, oder eine gewaltsame Erledigung unab-
lichſt ferne Zukunft zuruͤckzudraͤngen. Seit dem Frieden von Kutahja hatten die Waffen in dieſen Laͤndern geruht, und man forderte allſeitig und beſtimmt von der Pforte, wie von Mehmet-Aly, in dem jetzt beſtehenden Zuſtande der Dinge zu verharren, vielleicht ohne genau zu wiſſen, ob dieſer Zuſtand ertraͤglich und haltbar ſei, und ob er nicht auf die Dauer beide Partheien unausweichlich zu Grunde richten muͤſſe. Wie ſich in der Chemie zwei Stoffe vollkommen neutraliſiren, ſo waren alle Kraͤfte der Tuͤrkei durch Aegypten, alle Kraͤfte Aegyptens durch die Tuͤrkei abſorbirt, und beide Staaten nach Außen faſt vernichtet. Die Donau, Schumla, Konſtantinopel ſelbſt waren ohne Vertheidiger, Alexandria und Cairo von Jnvaliden beſetzt, waͤhrend in einem Winkel Kurdiſtans und Syriens maͤch- tige Heere einander gewaffnet gegenuͤber ſtanden.
Die Natur ſelbſt widerſetzt ſich allen großen Anhaͤu- fungen von Menſchen an einem Orte: in kultivirten Laͤn- dern ſind ſie ſchwierig und koſtſpielig, in Laͤndern, wie dieſe, moͤrderiſch und auf die Dauer unerſchwinglich. Schreck- lich war daher der Druck, welcher ſeit Jahren auf dieſen ungluͤcklichen Provinzen laſtete; aber auch das ganze Reich ſeufzte unter der Buͤrde, ein großes Heer in fernen Gegen- den ohne irgend einen andern Grund zu unterhalten, als weil eben ein maͤchtiger Nachbar dort auch ein Heer un- terhielt. Es ſind in ſieben Jahren hier mindeſtens 50,000 Rekruten ausgehoben und begraben, 100 Millionen impro- duktiv verausgabt und die Ernte ganzer Provinzen verzehrt, nur, weil der Gegner denſelben Aufwand machte. Wer allen dieſen gewaltſamen Zuſtaͤnden nahe ſtand, und uͤber- haupt mit offenen Augen zu ſehen wußte, der konnte ſich bald uͤberzeugen, daß der status quo den Partheien viel- leicht ferner noch vom Fruͤhjahr bis zum Herbſt, oder vom Herbſt bis zum Fruͤhjahr aufgedrungen werden koͤnne, daß aber auf die Dauer ein vermittelndes Einſchreiten der eu- ropaͤiſchen Maͤchte, oder eine gewaltſame Erledigung unab-
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lichſt ferne Zukunft zuruͤckzudraͤngen. Seit dem Frieden
von Kutahja hatten die Waffen in dieſen Laͤndern geruht,
und man forderte allſeitig und beſtimmt von der Pforte,
wie von Mehmet-Aly, in dem jetzt beſtehenden Zuſtande
der Dinge zu verharren, vielleicht ohne genau zu wiſſen,
ob dieſer Zuſtand ertraͤglich und haltbar ſei, und ob er
nicht auf die Dauer beide Partheien unausweichlich zu
Grunde richten muͤſſe. Wie ſich in der Chemie zwei Stoffe
vollkommen neutraliſiren, ſo waren alle Kraͤfte der Tuͤrkei
durch Aegypten, alle Kraͤfte Aegyptens durch die Tuͤrkei
abſorbirt, und beide Staaten nach Außen faſt vernichtet.
Die Donau, Schumla, Konſtantinopel ſelbſt waren ohne
Vertheidiger, Alexandria und Cairo von Jnvaliden beſetzt,
waͤhrend in einem Winkel Kurdiſtans und Syriens maͤch-
tige Heere einander gewaffnet gegenuͤber ſtanden.
Die Natur ſelbſt widerſetzt ſich allen großen Anhaͤu-
fungen von Menſchen an einem Orte: in kultivirten Laͤn-
dern ſind ſie ſchwierig und koſtſpielig, in Laͤndern, wie dieſe,
moͤrderiſch und auf die Dauer unerſchwinglich. Schreck-
lich war daher der Druck, welcher ſeit Jahren auf dieſen
ungluͤcklichen Provinzen laſtete; aber auch das ganze Reich
ſeufzte unter der Buͤrde, ein großes Heer in fernen Gegen-
den ohne irgend einen andern Grund zu unterhalten, als
weil eben ein maͤchtiger Nachbar dort auch ein Heer un-
terhielt. Es ſind in ſieben Jahren hier mindeſtens 50,000
Rekruten ausgehoben und begraben, 100 Millionen impro-
duktiv verausgabt und die Ernte ganzer Provinzen verzehrt,
nur, weil der Gegner denſelben Aufwand machte. Wer
allen dieſen gewaltſamen Zuſtaͤnden nahe ſtand, und uͤber-
haupt mit offenen Augen zu ſehen wußte, der konnte ſich
bald uͤberzeugen, daß der status quo den Partheien viel-
leicht ferner noch vom Fruͤhjahr bis zum Herbſt, oder vom
Herbſt bis zum Fruͤhjahr aufgedrungen werden koͤnne, daß
aber auf die Dauer ein vermittelndes Einſchreiten der eu-
ropaͤiſchen Maͤchte, oder eine gewaltſame Erledigung unab-
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/391>, abgerufen am 22.11.2024.
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