teresse einer der Mächte zu verletzen, und mancher Vor- schlag wird von der einen schon um deswillen verworfen, weil er von der andern angerathen wurde. Der Einfluß der Fremden in der Türkei ist so groß, daß der Sultan nicht Herr in seiner Hauptstadt ist, sobald es sich um einen Franken handelt; denn diese stehen nicht unter dem Gesetz des Landes, sondern unter dem Schutz ihres Gesandten. Selbst bei den gröbsten Polizei-Vergehen kann der Schul- dige nur verhaftet, nicht aber gestraft werden; er ist auf die erste Reclamation der betreffenden Gesandtschaft aus- zuliefern, wo nicht, so wird mit Abbrechen des diplomati- schen Verkehrs, mit Flotten und Bombardement gedroht. Weil sich nun aber auch bei den Gesandtschaften kein ei- gentlicher Gerichtshof befindet, so sind diese auf die Depor- tation des Schuldigen beschränkt, welcher mit der nächsten Schiffsgelegenheit wieder nach dem Eldorado der Straf- losigkeit zurückkehrt, und trotzig und unantastbar unter den Augen der türkischen Behörden umhergeht. Auf der an- dern Seite ist es gar nicht in Abrede zu stellen, daß bei einem türkischen Gerichtshof durchaus keine Gerechtigkeit für einen Franken zu finden sein würde, und so ist das eine Uebel immer die Quelle des andern, und ein Unheil durch das andere bedingt.
Der lange Streit zwischen Kirche und Staat, welcher sich durch die ganze Geschichte des christlichen Abendlandes hinzieht, und immer noch von Zeit zu Zeit verderblich auf- flackert, hat vielleicht kein Land weniger berührt, als Ruß- land, wo das Oberhaupt des Staats zugleich das der Kirche ist; ein solcher Kampf der weltlichen Macht gegen die Die- ner des Glaubens würde aber äußerst bedenklich da wer- den, wo eben der Glaube das einzige Band ist, welches so verschiedene Völker, wie Türken und Araber, Kurden und Bulgaren, Arnauten und Lasen, zu einem Ganzen verknüpft, und wo die Hälfte der Unterthanen die Glaubens-Ver- wandten einer Nachbarmacht sind. Zwar ist der Großherr zugleich der Kalif, aber als solcher ist er doppelt gebunden,
tereſſe einer der Maͤchte zu verletzen, und mancher Vor- ſchlag wird von der einen ſchon um deswillen verworfen, weil er von der andern angerathen wurde. Der Einfluß der Fremden in der Tuͤrkei iſt ſo groß, daß der Sultan nicht Herr in ſeiner Hauptſtadt iſt, ſobald es ſich um einen Franken handelt; denn dieſe ſtehen nicht unter dem Geſetz des Landes, ſondern unter dem Schutz ihres Geſandten. Selbſt bei den groͤbſten Polizei-Vergehen kann der Schul- dige nur verhaftet, nicht aber geſtraft werden; er iſt auf die erſte Reclamation der betreffenden Geſandtſchaft aus- zuliefern, wo nicht, ſo wird mit Abbrechen des diplomati- ſchen Verkehrs, mit Flotten und Bombardement gedroht. Weil ſich nun aber auch bei den Geſandtſchaften kein ei- gentlicher Gerichtshof befindet, ſo ſind dieſe auf die Depor- tation des Schuldigen beſchraͤnkt, welcher mit der naͤchſten Schiffsgelegenheit wieder nach dem Eldorado der Straf- loſigkeit zuruͤckkehrt, und trotzig und unantaſtbar unter den Augen der tuͤrkiſchen Behoͤrden umhergeht. Auf der an- dern Seite iſt es gar nicht in Abrede zu ſtellen, daß bei einem tuͤrkiſchen Gerichtshof durchaus keine Gerechtigkeit fuͤr einen Franken zu finden ſein wuͤrde, und ſo iſt das eine Uebel immer die Quelle des andern, und ein Unheil durch das andere bedingt.
Der lange Streit zwiſchen Kirche und Staat, welcher ſich durch die ganze Geſchichte des chriſtlichen Abendlandes hinzieht, und immer noch von Zeit zu Zeit verderblich auf- flackert, hat vielleicht kein Land weniger beruͤhrt, als Ruß- land, wo das Oberhaupt des Staats zugleich das der Kirche iſt; ein ſolcher Kampf der weltlichen Macht gegen die Die- ner des Glaubens wuͤrde aber aͤußerſt bedenklich da wer- den, wo eben der Glaube das einzige Band iſt, welches ſo verſchiedene Voͤlker, wie Tuͤrken und Araber, Kurden und Bulgaren, Arnauten und Laſen, zu einem Ganzen verknuͤpft, und wo die Haͤlfte der Unterthanen die Glaubens-Ver- wandten einer Nachbarmacht ſind. Zwar iſt der Großherr zugleich der Kalif, aber als ſolcher iſt er doppelt gebunden,
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tereſſe einer der Maͤchte zu verletzen, und mancher Vor-
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weil er von der andern angerathen wurde. Der Einfluß
der Fremden in der Tuͤrkei iſt ſo groß, daß der Sultan
nicht Herr in ſeiner Hauptſtadt iſt, ſobald es ſich um einen
Franken handelt; denn dieſe ſtehen nicht unter dem Geſetz
des Landes, ſondern unter dem Schutz ihres Geſandten.
Selbſt bei den groͤbſten Polizei-Vergehen kann der Schul-
dige nur verhaftet, nicht aber geſtraft werden; er iſt auf
die erſte Reclamation der betreffenden Geſandtſchaft aus-
zuliefern, wo nicht, ſo wird mit Abbrechen des diplomati-
ſchen Verkehrs, mit Flotten und Bombardement gedroht.
Weil ſich nun aber auch bei den Geſandtſchaften kein ei-
gentlicher Gerichtshof befindet, ſo ſind dieſe auf die Depor-
tation des Schuldigen beſchraͤnkt, welcher mit der naͤchſten
Schiffsgelegenheit wieder nach dem Eldorado der Straf-
loſigkeit zuruͤckkehrt, und trotzig und unantaſtbar unter den
Augen der tuͤrkiſchen Behoͤrden umhergeht. Auf der an-
dern Seite iſt es gar nicht in Abrede zu ſtellen, daß bei
einem tuͤrkiſchen Gerichtshof durchaus keine Gerechtigkeit
fuͤr einen Franken zu finden ſein wuͤrde, und ſo iſt das
eine Uebel immer die Quelle des andern, und ein Unheil
durch das andere bedingt.
Der lange Streit zwiſchen Kirche und Staat, welcher
ſich durch die ganze Geſchichte des chriſtlichen Abendlandes
hinzieht, und immer noch von Zeit zu Zeit verderblich auf-
flackert, hat vielleicht kein Land weniger beruͤhrt, als Ruß-
land, wo das Oberhaupt des Staats zugleich das der Kirche
iſt; ein ſolcher Kampf der weltlichen Macht gegen die Die-
ner des Glaubens wuͤrde aber aͤußerſt bedenklich da wer-
den, wo eben der Glaube das einzige Band iſt, welches ſo
verſchiedene Voͤlker, wie Tuͤrken und Araber, Kurden und
Bulgaren, Arnauten und Laſen, zu einem Ganzen verknuͤpft,
und wo die Haͤlfte der Unterthanen die Glaubens-Ver-
wandten einer Nachbarmacht ſind. Zwar iſt der Großherr
zugleich der Kalif, aber als ſolcher iſt er doppelt gebunden,
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Moltke, Helmuth Karl Bernhard von: Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839. Berlin u. a., 1841, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moltke_zustaende_1841/426>, abgerufen am 11.12.2024.
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