Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

MASS UND SCHRIFT.
das ist schon bemerkt worden, dass zwei verschiedene grie-
chische Alphabete nach Italien gelangt sind; das eine mit
doppeltem s (Sigma s und San sch) und einfachem k und
mit der älteren Form des r P nach Etrurien, das zweite
mit einfachem s und doppeltem k (Kappa k und Koppa q)
und der jüngeren Form des r R nach Latium. Die älteste
etruskische Schrift kennt noch die Zeile nicht und windet
sich wie die Schlange sich ringelt, die jüngere schreibt in abge-
setzten Parallelzeilen von rechts nach links, der Römer dagegen
auch in parallelen Linien, aber von links nach rechts. Ueber
die Herkunft des etruskischen Alphabets lässt sich mit Be-
stimmtheit nur sagen, dass es von Kerkyra und Korinth nicht,
auch nicht von den sikelischen Dorern entlehnt ist; am mei-
sten für sich hat die Herleitung des Alphabets aus dem alt-
attischen, das früher als irgend ein anderes der griechischen
Alphabete das Koppa fallen gelassen zu haben scheint. Ebenso
wenig lässt sich mit Bestimmtheit entscheiden, ob das tuski-
sche Alphabet von Spina oder von Caere aus sich über Etru-
rien verbreitet hat, obwohl die Wahrscheinlichkeit für das letzte
uralte Entrepot des Handels und der Civilisation spricht. --
Dagegen liegt die Ableitung des lateinischen Alphabets von
dem der kumanischen und sikelischen Griechen offenkundig
vor; ja es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass hier nicht bloss
wie in Etrurien eine einmalige Reception stattgefunden hat,
sondern dass in Folge des lebhaften Verkehrs der Latiner in
Sicilien sie längere Zeit sich mit dem dort üblichen Alphabet
im Gleichgewicht hielten und den Schwankungen desselben
folgten. So finden wir zum Beispiel, dass die älteren Formen
S und [M] den Römern nicht unbekannt waren, aber die
jüngeren [S] und [M] dieselben im gemeinen Gebrauch ersetz-
ten; was sich nur erklären lässt durch eine dauernde Ausglei-
chung beider Alphabete. Desshalb ist es auch bedenklich aus
dem verhältnissmässig jüngeren Charakter desjenigen griechi-
schen Alphabets, das nach Rom gelangt ist, in Vergleichung
mit dem nach Etrurien gebrachten den Schluss zu ziehen,
dass in Etrurien früher geschrieben worden ist als in Rom.
-- Welchen gewaltigen Eindruck die Erwerbung des Buch-
stabenschatzes auf die Empfänger machte und wie lebhaft sie
die in diesen unscheinbaren Zeichen schlummernde Macht
ahnten, beweist ein merkwürdiges Gefäss aus einem der älte-
sten vor Erfindung des Bogens gebauten Gräber von Caere,
worauf das altgriechische Musteralphabet, wie es nach Etrurien

MASS UND SCHRIFT.
das ist schon bemerkt worden, daſs zwei verschiedene grie-
chische Alphabete nach Italien gelangt sind; das eine mit
doppeltem s (Sigma s und San sch) und einfachem k und
mit der älteren Form des r P nach Etrurien, das zweite
mit einfachem s und doppeltem k (Kappa k und Koppa q)
und der jüngeren Form des r R nach Latium. Die älteste
etruskische Schrift kennt noch die Zeile nicht und windet
sich wie die Schlange sich ringelt, die jüngere schreibt in abge-
setzten Parallelzeilen von rechts nach links, der Römer dagegen
auch in parallelen Linien, aber von links nach rechts. Ueber
die Herkunft des etruskischen Alphabets läſst sich mit Be-
stimmtheit nur sagen, daſs es von Kerkyra und Korinth nicht,
auch nicht von den sikelischen Dorern entlehnt ist; am mei-
sten für sich hat die Herleitung des Alphabets aus dem alt-
attischen, das früher als irgend ein anderes der griechischen
Alphabete das Koppa fallen gelassen zu haben scheint. Ebenso
wenig läſst sich mit Bestimmtheit entscheiden, ob das tuski-
sche Alphabet von Spina oder von Caere aus sich über Etru-
rien verbreitet hat, obwohl die Wahrscheinlichkeit für das letzte
uralte Entrepot des Handels und der Civilisation spricht. —
Dagegen liegt die Ableitung des lateinischen Alphabets von
dem der kumanischen und sikelischen Griechen offenkundig
vor; ja es ist sogar sehr wahrscheinlich, daſs hier nicht bloſs
wie in Etrurien eine einmalige Reception stattgefunden hat,
sondern daſs in Folge des lebhaften Verkehrs der Latiner in
Sicilien sie längere Zeit sich mit dem dort üblichen Alphabet
im Gleichgewicht hielten und den Schwankungen desselben
folgten. So finden wir zum Beispiel, daſs die älteren Formen
Σ und [M] den Römern nicht unbekannt waren, aber die
jüngeren [S] und [M] dieselben im gemeinen Gebrauch ersetz-
ten; was sich nur erklären läſst durch eine dauernde Ausglei-
chung beider Alphabete. Deſshalb ist es auch bedenklich aus
dem verhältniſsmäſsig jüngeren Charakter desjenigen griechi-
schen Alphabets, das nach Rom gelangt ist, in Vergleichung
mit dem nach Etrurien gebrachten den Schluſs zu ziehen,
daſs in Etrurien früher geschrieben worden ist als in Rom.
— Welchen gewaltigen Eindruck die Erwerbung des Buch-
stabenschatzes auf die Empfänger machte und wie lebhaft sie
die in diesen unscheinbaren Zeichen schlummernde Macht
ahnten, beweist ein merkwürdiges Gefäſs aus einem der älte-
sten vor Erfindung des Bogens gebauten Gräber von Caere,
worauf das altgriechische Musteralphabet, wie es nach Etrurien

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0155" n="141"/><fw place="top" type="header">MASS UND SCHRIFT.</fw><lb/>
das ist schon bemerkt worden, da&#x017F;s zwei verschiedene grie-<lb/>
chische Alphabete nach Italien gelangt sind; das eine mit<lb/>
doppeltem <hi rendition="#i">s</hi> (Sigma <hi rendition="#i">s</hi> und San <hi rendition="#i">sch</hi>) und einfachem <hi rendition="#i">k</hi> und<lb/>
mit der älteren Form des <hi rendition="#i">r P</hi> nach Etrurien, das zweite<lb/>
mit einfachem <hi rendition="#i">s</hi> und doppeltem <hi rendition="#i">k</hi> (Kappa <hi rendition="#i">k</hi> und Koppa <hi rendition="#i">q</hi>)<lb/>
und der jüngeren Form des <hi rendition="#i">r R</hi> nach Latium. Die älteste<lb/>
etruskische Schrift kennt noch die Zeile nicht und windet<lb/>
sich wie die Schlange sich ringelt, die jüngere schreibt in abge-<lb/>
setzten Parallelzeilen von rechts nach links, der Römer dagegen<lb/>
auch in parallelen Linien, aber von links nach rechts. Ueber<lb/>
die Herkunft des etruskischen Alphabets lä&#x017F;st sich mit Be-<lb/>
stimmtheit nur sagen, da&#x017F;s es von Kerkyra und Korinth nicht,<lb/>
auch nicht von den sikelischen Dorern entlehnt ist; am mei-<lb/>
sten für sich hat die Herleitung des Alphabets aus dem alt-<lb/>
attischen, das früher als irgend ein anderes der griechischen<lb/>
Alphabete das Koppa fallen gelassen zu haben scheint. Ebenso<lb/>
wenig lä&#x017F;st sich mit Bestimmtheit entscheiden, ob das tuski-<lb/>
sche Alphabet von Spina oder von Caere aus sich über Etru-<lb/>
rien verbreitet hat, obwohl die Wahrscheinlichkeit für das letzte<lb/>
uralte Entrepot des Handels und der Civilisation spricht. &#x2014;<lb/>
Dagegen liegt die Ableitung des lateinischen Alphabets von<lb/>
dem der kumanischen und sikelischen Griechen offenkundig<lb/>
vor; ja es ist sogar sehr wahrscheinlich, da&#x017F;s hier nicht blo&#x017F;s<lb/>
wie in Etrurien eine einmalige Reception stattgefunden hat,<lb/>
sondern da&#x017F;s in Folge des lebhaften Verkehrs der Latiner in<lb/>
Sicilien sie längere Zeit sich mit dem dort üblichen Alphabet<lb/>
im Gleichgewicht hielten und den Schwankungen desselben<lb/>
folgten. So finden wir zum Beispiel, da&#x017F;s die älteren Formen<lb/>
&#x03A3; und <supplied>M</supplied> den Römern nicht unbekannt waren, aber die<lb/>
jüngeren <supplied>S</supplied> und <supplied>M</supplied> dieselben im gemeinen Gebrauch ersetz-<lb/>
ten; was sich nur erklären lä&#x017F;st durch eine dauernde Ausglei-<lb/>
chung beider Alphabete. De&#x017F;shalb ist es auch bedenklich aus<lb/>
dem verhältni&#x017F;smä&#x017F;sig jüngeren Charakter desjenigen griechi-<lb/>
schen Alphabets, das nach Rom gelangt ist, in Vergleichung<lb/>
mit dem nach Etrurien gebrachten den Schlu&#x017F;s zu ziehen,<lb/>
da&#x017F;s in Etrurien früher geschrieben worden ist als in Rom.<lb/>
&#x2014; Welchen gewaltigen Eindruck die Erwerbung des Buch-<lb/>
stabenschatzes auf die Empfänger machte und wie lebhaft sie<lb/>
die in diesen unscheinbaren Zeichen schlummernde Macht<lb/>
ahnten, beweist ein merkwürdiges Gefä&#x017F;s aus einem der älte-<lb/>
sten vor Erfindung des Bogens gebauten Gräber von Caere,<lb/>
worauf das altgriechische Musteralphabet, wie es nach Etrurien<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[141/0155] MASS UND SCHRIFT. das ist schon bemerkt worden, daſs zwei verschiedene grie- chische Alphabete nach Italien gelangt sind; das eine mit doppeltem s (Sigma s und San sch) und einfachem k und mit der älteren Form des r P nach Etrurien, das zweite mit einfachem s und doppeltem k (Kappa k und Koppa q) und der jüngeren Form des r R nach Latium. Die älteste etruskische Schrift kennt noch die Zeile nicht und windet sich wie die Schlange sich ringelt, die jüngere schreibt in abge- setzten Parallelzeilen von rechts nach links, der Römer dagegen auch in parallelen Linien, aber von links nach rechts. Ueber die Herkunft des etruskischen Alphabets läſst sich mit Be- stimmtheit nur sagen, daſs es von Kerkyra und Korinth nicht, auch nicht von den sikelischen Dorern entlehnt ist; am mei- sten für sich hat die Herleitung des Alphabets aus dem alt- attischen, das früher als irgend ein anderes der griechischen Alphabete das Koppa fallen gelassen zu haben scheint. Ebenso wenig läſst sich mit Bestimmtheit entscheiden, ob das tuski- sche Alphabet von Spina oder von Caere aus sich über Etru- rien verbreitet hat, obwohl die Wahrscheinlichkeit für das letzte uralte Entrepot des Handels und der Civilisation spricht. — Dagegen liegt die Ableitung des lateinischen Alphabets von dem der kumanischen und sikelischen Griechen offenkundig vor; ja es ist sogar sehr wahrscheinlich, daſs hier nicht bloſs wie in Etrurien eine einmalige Reception stattgefunden hat, sondern daſs in Folge des lebhaften Verkehrs der Latiner in Sicilien sie längere Zeit sich mit dem dort üblichen Alphabet im Gleichgewicht hielten und den Schwankungen desselben folgten. So finden wir zum Beispiel, daſs die älteren Formen Σ und M den Römern nicht unbekannt waren, aber die jüngeren S und M dieselben im gemeinen Gebrauch ersetz- ten; was sich nur erklären läſst durch eine dauernde Ausglei- chung beider Alphabete. Deſshalb ist es auch bedenklich aus dem verhältniſsmäſsig jüngeren Charakter desjenigen griechi- schen Alphabets, das nach Rom gelangt ist, in Vergleichung mit dem nach Etrurien gebrachten den Schluſs zu ziehen, daſs in Etrurien früher geschrieben worden ist als in Rom. — Welchen gewaltigen Eindruck die Erwerbung des Buch- stabenschatzes auf die Empfänger machte und wie lebhaft sie die in diesen unscheinbaren Zeichen schlummernde Macht ahnten, beweist ein merkwürdiges Gefäſs aus einem der älte- sten vor Erfindung des Bogens gebauten Gräber von Caere, worauf das altgriechische Musteralphabet, wie es nach Etrurien

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/155
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/155>, abgerufen am 24.11.2024.