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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
bunen auf Leib und Leben, habe er die Stadt verlassen, in-
dess nur um zurückzukehren an der Spitze eines volskischen
Heeres; jedoch im Begriff seine Vaterstadt für den Landes-
feind zu erobern habe das ernste Wort der Mutter sein Ge-
wissen gerührt und also sei von ihm der erste Verrath durch
einen zweiten gesühnt worden und beide durch den Tod. Wie
viel darin wahr ist, lässt sich nicht entscheiden; aber die Er-
zählung, aus der die naive Impertinenz der römischen Anna-
listen eine vaterländische Glorie gemacht hat, öffnet den Ein-
blick in die tiefe sittliche und politische Schändlichkeit dieser
ständischen Kämpfe. Aehnlich ist der Ueberfall des Capitols
durch eine Schaar politischer Flüchtlinge, geführt von Appius
Herdonius im Jahr 297; sie riefen die Sclaven zu den Waf-
fen und erst nach heissem Kampf und mit Hülfe der her-
beigeeilten Tusculaner ward die römische Bürgerwehr der
catilinarischen Bande Meister. Denselben Charakter fanati-
scher Erbitterung tragen andere Ereignisse dieser Zeit, deren
geschichtliche Bedeutung in den lügenseligen Stammsagen sich
nicht mehr erfassen lässt; so das Uebergewicht des fabischen
Geschlechtes, das von 269 bis 275 den einen Consul stellte,
und die Reaction dagegen, ihre Auswanderung aus Rom und
ihre Vernichtung durch die Etrusker an der Cremera (277).
Vielleicht hängt es mit diesem Hader zusammen, dass das bis
dahin dem Magistrat zuständige Vorschlagsrecht der Nach-
folger wenigstens für den einen Consul wegfiel (um 273).
Noch gehässiger war die Ermordung des Volkstribuns Gnaeus
Genucius, der es gewagt hatte zwei Consulare zur Rechen-
schaft zu ziehen und der am Morgen des zu der Anklage
bestimmten Tages todt im Bette gefunden ward (281); die
unmittelbare Folge davon war das publilische Gesetz (283),
welches zwar nur als Gemeindebeliebung durchging, aber
dessen Anfechtung der Adel nicht wagte. Dadurch ging
die Wahl der Tribunen von den Curien über auf die Tri-
bus und es schwand damit die letzte versöhnliche Bestim-
mung, welche die Verfassung noch enthielt. -- Folgenrei-
cher aber und einsichtiger angelegt als alle diese Partei-
manöver war der Versuch des Spurius Cassius dem wirklichen
Uebel abzuhelfen durch einen directen Angriff auf die finan-
zielle Omnipotenz der Reichen. Er war Patricier und keiner
that es in seinem Stande an Rang und Ruhm ihm zuvor;
nach zwei Triumphen, im dritten Consulat (268) beantragte
er eine Auftheilung des Gemeinlandes in der Volksversamm-

ZWEITES BUCH. KAPITEL II.
bunen auf Leib und Leben, habe er die Stadt verlassen, in-
deſs nur um zurückzukehren an der Spitze eines volskischen
Heeres; jedoch im Begriff seine Vaterstadt für den Landes-
feind zu erobern habe das ernste Wort der Mutter sein Ge-
wissen gerührt und also sei von ihm der erste Verrath durch
einen zweiten gesühnt worden und beide durch den Tod. Wie
viel darin wahr ist, läſst sich nicht entscheiden; aber die Er-
zählung, aus der die naive Impertinenz der römischen Anna-
listen eine vaterländische Glorie gemacht hat, öffnet den Ein-
blick in die tiefe sittliche und politische Schändlichkeit dieser
ständischen Kämpfe. Aehnlich ist der Ueberfall des Capitols
durch eine Schaar politischer Flüchtlinge, geführt von Appius
Herdonius im Jahr 297; sie riefen die Sclaven zu den Waf-
fen und erst nach heiſsem Kampf und mit Hülfe der her-
beigeeilten Tusculaner ward die römische Bürgerwehr der
catilinarischen Bande Meister. Denselben Charakter fanati-
scher Erbitterung tragen andere Ereignisse dieser Zeit, deren
geschichtliche Bedeutung in den lügenseligen Stammsagen sich
nicht mehr erfassen läſst; so das Uebergewicht des fabischen
Geschlechtes, das von 269 bis 275 den einen Consul stellte,
und die Reaction dagegen, ihre Auswanderung aus Rom und
ihre Vernichtung durch die Etrusker an der Cremera (277).
Vielleicht hängt es mit diesem Hader zusammen, daſs das bis
dahin dem Magistrat zuständige Vorschlagsrecht der Nach-
folger wenigstens für den einen Consul wegfiel (um 273).
Noch gehässiger war die Ermordung des Volkstribuns Gnaeus
Genucius, der es gewagt hatte zwei Consulare zur Rechen-
schaft zu ziehen und der am Morgen des zu der Anklage
bestimmten Tages todt im Bette gefunden ward (281); die
unmittelbare Folge davon war das publilische Gesetz (283),
welches zwar nur als Gemeindebeliebung durchging, aber
dessen Anfechtung der Adel nicht wagte. Dadurch ging
die Wahl der Tribunen von den Curien über auf die Tri-
bus und es schwand damit die letzte versöhnliche Bestim-
mung, welche die Verfassung noch enthielt. — Folgenrei-
cher aber und einsichtiger angelegt als alle diese Partei-
manöver war der Versuch des Spurius Cassius dem wirklichen
Uebel abzuhelfen durch einen directen Angriff auf die finan-
zielle Omnipotenz der Reichen. Er war Patricier und keiner
that es in seinem Stande an Rang und Ruhm ihm zuvor;
nach zwei Triumphen, im dritten Consulat (268) beantragte
er eine Auftheilung des Gemeinlandes in der Volksversamm-

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[180/0194] ZWEITES BUCH. KAPITEL II. bunen auf Leib und Leben, habe er die Stadt verlassen, in- deſs nur um zurückzukehren an der Spitze eines volskischen Heeres; jedoch im Begriff seine Vaterstadt für den Landes- feind zu erobern habe das ernste Wort der Mutter sein Ge- wissen gerührt und also sei von ihm der erste Verrath durch einen zweiten gesühnt worden und beide durch den Tod. Wie viel darin wahr ist, läſst sich nicht entscheiden; aber die Er- zählung, aus der die naive Impertinenz der römischen Anna- listen eine vaterländische Glorie gemacht hat, öffnet den Ein- blick in die tiefe sittliche und politische Schändlichkeit dieser ständischen Kämpfe. Aehnlich ist der Ueberfall des Capitols durch eine Schaar politischer Flüchtlinge, geführt von Appius Herdonius im Jahr 297; sie riefen die Sclaven zu den Waf- fen und erst nach heiſsem Kampf und mit Hülfe der her- beigeeilten Tusculaner ward die römische Bürgerwehr der catilinarischen Bande Meister. Denselben Charakter fanati- scher Erbitterung tragen andere Ereignisse dieser Zeit, deren geschichtliche Bedeutung in den lügenseligen Stammsagen sich nicht mehr erfassen läſst; so das Uebergewicht des fabischen Geschlechtes, das von 269 bis 275 den einen Consul stellte, und die Reaction dagegen, ihre Auswanderung aus Rom und ihre Vernichtung durch die Etrusker an der Cremera (277). Vielleicht hängt es mit diesem Hader zusammen, daſs das bis dahin dem Magistrat zuständige Vorschlagsrecht der Nach- folger wenigstens für den einen Consul wegfiel (um 273). Noch gehässiger war die Ermordung des Volkstribuns Gnaeus Genucius, der es gewagt hatte zwei Consulare zur Rechen- schaft zu ziehen und der am Morgen des zu der Anklage bestimmten Tages todt im Bette gefunden ward (281); die unmittelbare Folge davon war das publilische Gesetz (283), welches zwar nur als Gemeindebeliebung durchging, aber dessen Anfechtung der Adel nicht wagte. Dadurch ging die Wahl der Tribunen von den Curien über auf die Tri- bus und es schwand damit die letzte versöhnliche Bestim- mung, welche die Verfassung noch enthielt. — Folgenrei- cher aber und einsichtiger angelegt als alle diese Partei- manöver war der Versuch des Spurius Cassius dem wirklichen Uebel abzuhelfen durch einen directen Angriff auf die finan- zielle Omnipotenz der Reichen. Er war Patricier und keiner that es in seinem Stande an Rang und Ruhm ihm zuvor; nach zwei Triumphen, im dritten Consulat (268) beantragte er eine Auftheilung des Gemeinlandes in der Volksversamm-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/194>, abgerufen am 24.11.2024.