Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
wie sie hier heissen die Raeter, sitzen in dem heutigen Grau-
bündten und Tirol, ebenso die Umbrer in den Thälern des
Apennin. Den nordöstlichen Theil des Pothals behielten die
anderssprachigen Veneter im Besitz; in den westlichen Ber-
gen behaupteten sich ligurische Stämme, die bis Pisa und
Arezzo hinab wohnten und das eigentliche Keltenland von
Etrurien schieden. Nur in dem mittleren Flachland hausten
die Kelten, nördlich vom Po die Insubrer und Cenomanen,
südlich die Boier, an der adriatischen Küste von Ariminum
bis Ankon, in dem sogenannten ,Gallierland' (ager Gallicus)
die Senonen, kleinerer Völkerschaften zu geschweigen. Aber
selbst hier müssen die etruskischen Ansiedlungen zum Theil
wenigstens fortbestanden haben, etwa wie Ephesos und Milet
unter persischer Oberherrlichkeit. Mantua wenigstens, das
durch seine Insellage geschützt war, blieb bis in die Kaiserzeit
eine tuskische Stadt und auch in Hatria am Po, wo zahl-
reiche Vasenfunde gemacht sind, scheint das etruskische We-
sen fortbestanden zu haben; noch Skylax, der um 400 Italien
bereiste, nennt die Gegend von Hatria und Spina tuskisches
Land. Nur so erklärt sich auch, wie etruskische Corsaren
bis weit ins fünfte Jahrhundert hinein das adriatische Meer
unsicher machen konnten, und wesshalb nicht bloss Dionysios
von Syrakus die Küsten desselben mit Colonien bedeckte,
sondern selbst Athen noch um 429, wie eine kürzlich ent-
deckte merkwürdige Urkunde lehrt, die Anlage einer Colonie
im adriatischen Meer zum Schutz der Kauffahrer gegen die
tyrrhenischen Kaper beschloss. -- Aber mochte hier mehr
oder weniger von etruskischem Wesen sich behaupten, es
waren das einzelne Trümmer und Splitter der früheren Macht-
entwicklung; der etruskischen Nation kam nicht mehr zu Gute,
was hier im friedlichen Verkehr oder im Seekrieg von Einzelnen
noch etwa erreicht ward. Dagegen gingen wahrscheinlich von
diesen halbfreien Etruskern die Anfänge derjenigen Civilisation
aus, die wir späterhin bei den Kelten und überhaupt den Alpen-
völkern finden. Schon die Ansiedlung der Keltenschwärme
selbst, der ,Trümmer des Heeres', wie Skylax sie nennt, in den
lombardischen Ebenen gehört hierher; aber auch die Anfänge
der Handwerke und Künste und das Alphabet sind den lom-
bardischen Kelten, ja den Alpenvölkern bis in die heutige
Steiermark hinein von den Etruskern aus zugekommen.

Während also die Besitzungen in Campanien wie nörd-
lich vom Apennin und südlich vom ciminischen Walde den

ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.
wie sie hier heiſsen die Raeter, sitzen in dem heutigen Grau-
bündten und Tirol, ebenso die Umbrer in den Thälern des
Apennin. Den nordöstlichen Theil des Pothals behielten die
anderssprachigen Veneter im Besitz; in den westlichen Ber-
gen behaupteten sich ligurische Stämme, die bis Pisa und
Arezzo hinab wohnten und das eigentliche Keltenland von
Etrurien schieden. Nur in dem mittleren Flachland hausten
die Kelten, nördlich vom Po die Insubrer und Cenomanen,
südlich die Boier, an der adriatischen Küste von Ariminum
bis Ankon, in dem sogenannten ‚Gallierland‘ (ager Gallicus)
die Senonen, kleinerer Völkerschaften zu geschweigen. Aber
selbst hier müssen die etruskischen Ansiedlungen zum Theil
wenigstens fortbestanden haben, etwa wie Ephesos und Milet
unter persischer Oberherrlichkeit. Mantua wenigstens, das
durch seine Insellage geschützt war, blieb bis in die Kaiserzeit
eine tuskische Stadt und auch in Hatria am Po, wo zahl-
reiche Vasenfunde gemacht sind, scheint das etruskische We-
sen fortbestanden zu haben; noch Skylax, der um 400 Italien
bereiste, nennt die Gegend von Hatria und Spina tuskisches
Land. Nur so erklärt sich auch, wie etruskische Corsaren
bis weit ins fünfte Jahrhundert hinein das adriatische Meer
unsicher machen konnten, und weſshalb nicht bloſs Dionysios
von Syrakus die Küsten desselben mit Colonien bedeckte,
sondern selbst Athen noch um 429, wie eine kürzlich ent-
deckte merkwürdige Urkunde lehrt, die Anlage einer Colonie
im adriatischen Meer zum Schutz der Kauffahrer gegen die
tyrrhenischen Kaper beschloſs. — Aber mochte hier mehr
oder weniger von etruskischem Wesen sich behaupten, es
waren das einzelne Trümmer und Splitter der früheren Macht-
entwicklung; der etruskischen Nation kam nicht mehr zu Gute,
was hier im friedlichen Verkehr oder im Seekrieg von Einzelnen
noch etwa erreicht ward. Dagegen gingen wahrscheinlich von
diesen halbfreien Etruskern die Anfänge derjenigen Civilisation
aus, die wir späterhin bei den Kelten und überhaupt den Alpen-
völkern finden. Schon die Ansiedlung der Keltenschwärme
selbst, der ‚Trümmer des Heeres‘, wie Skylax sie nennt, in den
lombardischen Ebenen gehört hierher; aber auch die Anfänge
der Handwerke und Künste und das Alphabet sind den lom-
bardischen Kelten, ja den Alpenvölkern bis in die heutige
Steiermark hinein von den Etruskern aus zugekommen.

Während also die Besitzungen in Campanien wie nörd-
lich vom Apennin und südlich vom ciminischen Walde den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0232" n="218"/><fw place="top" type="header">ZWEITES BUCH. KAPITEL IV.</fw><lb/>
wie sie hier hei&#x017F;sen die Raeter, sitzen in dem heutigen Grau-<lb/>
bündten und Tirol, ebenso die Umbrer in den Thälern des<lb/>
Apennin. Den nordöstlichen Theil des Pothals behielten die<lb/>
anderssprachigen Veneter im Besitz; in den westlichen Ber-<lb/>
gen behaupteten sich ligurische Stämme, die bis Pisa und<lb/>
Arezzo hinab wohnten und das eigentliche Keltenland von<lb/>
Etrurien schieden. Nur in dem mittleren Flachland hausten<lb/>
die Kelten, nördlich vom Po die Insubrer und Cenomanen,<lb/>
südlich die Boier, an der adriatischen Küste von Ariminum<lb/>
bis Ankon, in dem sogenannten &#x201A;Gallierland&#x2018; (<hi rendition="#i">ager Gallicus</hi>)<lb/>
die Senonen, kleinerer Völkerschaften zu geschweigen. Aber<lb/>
selbst hier müssen die etruskischen Ansiedlungen zum Theil<lb/>
wenigstens fortbestanden haben, etwa wie Ephesos und Milet<lb/>
unter persischer Oberherrlichkeit. Mantua wenigstens, das<lb/>
durch seine Insellage geschützt war, blieb bis in die Kaiserzeit<lb/>
eine tuskische Stadt und auch in Hatria am Po, wo zahl-<lb/>
reiche Vasenfunde gemacht sind, scheint das etruskische We-<lb/>
sen fortbestanden zu haben; noch Skylax, der um 400 Italien<lb/>
bereiste, nennt die Gegend von Hatria und Spina tuskisches<lb/>
Land. Nur so erklärt sich auch, wie etruskische Corsaren<lb/>
bis weit ins fünfte Jahrhundert hinein das adriatische Meer<lb/>
unsicher machen konnten, und we&#x017F;shalb nicht blo&#x017F;s Dionysios<lb/>
von Syrakus die Küsten desselben mit Colonien bedeckte,<lb/>
sondern selbst Athen noch um 429, wie eine kürzlich ent-<lb/>
deckte merkwürdige Urkunde lehrt, die Anlage einer Colonie<lb/>
im adriatischen Meer zum Schutz der Kauffahrer gegen die<lb/>
tyrrhenischen Kaper beschlo&#x017F;s. &#x2014; Aber mochte hier mehr<lb/>
oder weniger von etruskischem Wesen sich behaupten, es<lb/>
waren das einzelne Trümmer und Splitter der früheren Macht-<lb/>
entwicklung; der etruskischen Nation kam nicht mehr zu Gute,<lb/>
was hier im friedlichen Verkehr oder im Seekrieg von Einzelnen<lb/>
noch etwa erreicht ward. Dagegen gingen wahrscheinlich von<lb/>
diesen halbfreien Etruskern die Anfänge derjenigen Civilisation<lb/>
aus, die wir späterhin bei den Kelten und überhaupt den Alpen-<lb/>
völkern finden. Schon die Ansiedlung der Keltenschwärme<lb/>
selbst, der &#x201A;Trümmer des Heeres&#x2018;, wie Skylax sie nennt, in den<lb/>
lombardischen Ebenen gehört hierher; aber auch die Anfänge<lb/>
der Handwerke und Künste und das Alphabet sind den lom-<lb/>
bardischen Kelten, ja den Alpenvölkern bis in die heutige<lb/>
Steiermark hinein von den Etruskern aus zugekommen.</p><lb/>
          <p>Während also die Besitzungen in Campanien wie nörd-<lb/>
lich vom Apennin und südlich vom ciminischen Walde den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[218/0232] ZWEITES BUCH. KAPITEL IV. wie sie hier heiſsen die Raeter, sitzen in dem heutigen Grau- bündten und Tirol, ebenso die Umbrer in den Thälern des Apennin. Den nordöstlichen Theil des Pothals behielten die anderssprachigen Veneter im Besitz; in den westlichen Ber- gen behaupteten sich ligurische Stämme, die bis Pisa und Arezzo hinab wohnten und das eigentliche Keltenland von Etrurien schieden. Nur in dem mittleren Flachland hausten die Kelten, nördlich vom Po die Insubrer und Cenomanen, südlich die Boier, an der adriatischen Küste von Ariminum bis Ankon, in dem sogenannten ‚Gallierland‘ (ager Gallicus) die Senonen, kleinerer Völkerschaften zu geschweigen. Aber selbst hier müssen die etruskischen Ansiedlungen zum Theil wenigstens fortbestanden haben, etwa wie Ephesos und Milet unter persischer Oberherrlichkeit. Mantua wenigstens, das durch seine Insellage geschützt war, blieb bis in die Kaiserzeit eine tuskische Stadt und auch in Hatria am Po, wo zahl- reiche Vasenfunde gemacht sind, scheint das etruskische We- sen fortbestanden zu haben; noch Skylax, der um 400 Italien bereiste, nennt die Gegend von Hatria und Spina tuskisches Land. Nur so erklärt sich auch, wie etruskische Corsaren bis weit ins fünfte Jahrhundert hinein das adriatische Meer unsicher machen konnten, und weſshalb nicht bloſs Dionysios von Syrakus die Küsten desselben mit Colonien bedeckte, sondern selbst Athen noch um 429, wie eine kürzlich ent- deckte merkwürdige Urkunde lehrt, die Anlage einer Colonie im adriatischen Meer zum Schutz der Kauffahrer gegen die tyrrhenischen Kaper beschloſs. — Aber mochte hier mehr oder weniger von etruskischem Wesen sich behaupten, es waren das einzelne Trümmer und Splitter der früheren Macht- entwicklung; der etruskischen Nation kam nicht mehr zu Gute, was hier im friedlichen Verkehr oder im Seekrieg von Einzelnen noch etwa erreicht ward. Dagegen gingen wahrscheinlich von diesen halbfreien Etruskern die Anfänge derjenigen Civilisation aus, die wir späterhin bei den Kelten und überhaupt den Alpen- völkern finden. Schon die Ansiedlung der Keltenschwärme selbst, der ‚Trümmer des Heeres‘, wie Skylax sie nennt, in den lombardischen Ebenen gehört hierher; aber auch die Anfänge der Handwerke und Künste und das Alphabet sind den lom- bardischen Kelten, ja den Alpenvölkern bis in die heutige Steiermark hinein von den Etruskern aus zugekommen. Während also die Besitzungen in Campanien wie nörd- lich vom Apennin und südlich vom ciminischen Walde den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/232
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/232>, abgerufen am 21.11.2024.