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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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zu ersetzen. Nach einem Rasttag in dem anmuthigen Thal
von Chambery setzte die Armee an der Isere hinauf ihren
Marsch fort, ohne in dem breiten und reichen Grund durch
Mangel oder Angriffe aufgehalten zu werden. Erst als man
am vierten Tag eintrat in das Gebiet der Centronen (die heu-
tige Tarantaise), wo allmählich das Thal sich verengte, hatte
man wiederum mehr Veranlassung auf seiner Hut zu sein;
indess die Centronen empfingen das Heer an der Landesgrenze
(etwa bei Conflans) mit Zweigen und Kränzen und stellten
Schlachtvieh, Führer und Geisseln. Man zog wie durch Freun-
desland durch das centronische Gebiet. Als jedoch die Truppen
unmittelbar am Fuss der Alpen angelangt waren, da wo der
Weg die Isere verlässt und durch ein enges und schwieriges
Defile an dem Bach Reclus hinauf sich zu dem Gipfel des
Bernhard emporwindet, erschien auf einmal die Landwehr der
Centronen theils im Rücken der Armee, theils auf den rechts
und links den Pass einschliessenden Bergrändern, in der Hoff-
nung den Train und die Bagage abzuschneiden. Allein Han-
nibal, dessen sicherer Tact in all jenen Protestationen der
Centronen nichts gesehen hatte als die Absicht Schonung ih-
res Gebiets und die reiche Beute zugleich zu gewinnen, hatte
in Erwartung eines solchen Angriffs den Tross und die Rei-
terei voraufgeschickt und deckte den Marsch mit dem ge-
sammten Fussvolk; wodurch er die Absicht der Feinde ver-
eitelte, obwohl er nicht verhindern konnte, dass sie, auf den
Berghängen den Marsch des Fussvolks begleitend, ihm durch
geschleuderte oder herabgerollte Steine sehr beträchtlichen
Verlust zufügten. An dem ,weissen Stein' (noch jetzt la roche
blanche
), einem hohen einzeln stehenden Kreidefels am Fuss
des Bernhard, der den Aufweg beherrscht, lagerte Hannibal
mit seinem Fussvolk, den Abzug der die ganze Nacht hindurch
mühsam hinauf defilirenden Pferde und Saumthiere zu decken,
und erreichte unter beständigen sehr blutigen Gefechten end-
lich am folgenden Tage die Passhöhe. Hier auf der geschütz-
ten Hochebene, die sich um einen kleinen See, die Quelle
der Doria, in einer Ausdehnung von etwa 21/2 Miglien aus-
breitet, liess er die Armee rasten. Die Entmuthigung hatte
angefangen sich der Gemüther der Soldaten zu bemächtigen.
Die immer schwieriger werdenden Wege, die zu Ende gehen-
den Vorräthe, die Defileenmärsche unter beständigen Angriffen
des unerreichbaren Feindes, die arg gelichteten Reihen, die
hoffnungslose Lage der Versprengten und Verwundeten, das

DRITTES BUCH. KAPITEL IV.
zu ersetzen. Nach einem Rasttag in dem anmuthigen Thal
von Chambery setzte die Armee an der Isere hinauf ihren
Marsch fort, ohne in dem breiten und reichen Grund durch
Mangel oder Angriffe aufgehalten zu werden. Erst als man
am vierten Tag eintrat in das Gebiet der Centronen (die heu-
tige Tarantaise), wo allmählich das Thal sich verengte, hatte
man wiederum mehr Veranlassung auf seiner Hut zu sein;
indeſs die Centronen empfingen das Heer an der Landesgrenze
(etwa bei Conflans) mit Zweigen und Kränzen und stellten
Schlachtvieh, Führer und Geiſseln. Man zog wie durch Freun-
desland durch das centronische Gebiet. Als jedoch die Truppen
unmittelbar am Fuſs der Alpen angelangt waren, da wo der
Weg die Isere verläſst und durch ein enges und schwieriges
Defilé an dem Bach Reclus hinauf sich zu dem Gipfel des
Bernhard emporwindet, erschien auf einmal die Landwehr der
Centronen theils im Rücken der Armee, theils auf den rechts
und links den Paſs einschlieſsenden Bergrändern, in der Hoff-
nung den Train und die Bagage abzuschneiden. Allein Han-
nibal, dessen sicherer Tact in all jenen Protestationen der
Centronen nichts gesehen hatte als die Absicht Schonung ih-
res Gebiets und die reiche Beute zugleich zu gewinnen, hatte
in Erwartung eines solchen Angriffs den Troſs und die Rei-
terei voraufgeschickt und deckte den Marsch mit dem ge-
sammten Fuſsvolk; wodurch er die Absicht der Feinde ver-
eitelte, obwohl er nicht verhindern konnte, daſs sie, auf den
Berghängen den Marsch des Fuſsvolks begleitend, ihm durch
geschleuderte oder herabgerollte Steine sehr beträchtlichen
Verlust zufügten. An dem ‚weiſsen Stein‘ (noch jetzt la roche
blanche
), einem hohen einzeln stehenden Kreidefels am Fuſs
des Bernhard, der den Aufweg beherrscht, lagerte Hannibal
mit seinem Fuſsvolk, den Abzug der die ganze Nacht hindurch
mühsam hinauf defilirenden Pferde und Saumthiere zu decken,
und erreichte unter beständigen sehr blutigen Gefechten end-
lich am folgenden Tage die Paſshöhe. Hier auf der geschütz-
ten Hochebene, die sich um einen kleinen See, die Quelle
der Doria, in einer Ausdehnung von etwa 2½ Miglien aus-
breitet, lieſs er die Armee rasten. Die Entmuthigung hatte
angefangen sich der Gemüther der Soldaten zu bemächtigen.
Die immer schwieriger werdenden Wege, die zu Ende gehen-
den Vorräthe, die Defileenmärsche unter beständigen Angriffen
des unerreichbaren Feindes, die arg gelichteten Reihen, die
hoffnungslose Lage der Versprengten und Verwundeten, das

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[402/0416] DRITTES BUCH. KAPITEL IV. zu ersetzen. Nach einem Rasttag in dem anmuthigen Thal von Chambery setzte die Armee an der Isere hinauf ihren Marsch fort, ohne in dem breiten und reichen Grund durch Mangel oder Angriffe aufgehalten zu werden. Erst als man am vierten Tag eintrat in das Gebiet der Centronen (die heu- tige Tarantaise), wo allmählich das Thal sich verengte, hatte man wiederum mehr Veranlassung auf seiner Hut zu sein; indeſs die Centronen empfingen das Heer an der Landesgrenze (etwa bei Conflans) mit Zweigen und Kränzen und stellten Schlachtvieh, Führer und Geiſseln. Man zog wie durch Freun- desland durch das centronische Gebiet. Als jedoch die Truppen unmittelbar am Fuſs der Alpen angelangt waren, da wo der Weg die Isere verläſst und durch ein enges und schwieriges Defilé an dem Bach Reclus hinauf sich zu dem Gipfel des Bernhard emporwindet, erschien auf einmal die Landwehr der Centronen theils im Rücken der Armee, theils auf den rechts und links den Paſs einschlieſsenden Bergrändern, in der Hoff- nung den Train und die Bagage abzuschneiden. Allein Han- nibal, dessen sicherer Tact in all jenen Protestationen der Centronen nichts gesehen hatte als die Absicht Schonung ih- res Gebiets und die reiche Beute zugleich zu gewinnen, hatte in Erwartung eines solchen Angriffs den Troſs und die Rei- terei voraufgeschickt und deckte den Marsch mit dem ge- sammten Fuſsvolk; wodurch er die Absicht der Feinde ver- eitelte, obwohl er nicht verhindern konnte, daſs sie, auf den Berghängen den Marsch des Fuſsvolks begleitend, ihm durch geschleuderte oder herabgerollte Steine sehr beträchtlichen Verlust zufügten. An dem ‚weiſsen Stein‘ (noch jetzt la roche blanche), einem hohen einzeln stehenden Kreidefels am Fuſs des Bernhard, der den Aufweg beherrscht, lagerte Hannibal mit seinem Fuſsvolk, den Abzug der die ganze Nacht hindurch mühsam hinauf defilirenden Pferde und Saumthiere zu decken, und erreichte unter beständigen sehr blutigen Gefechten end- lich am folgenden Tage die Paſshöhe. Hier auf der geschütz- ten Hochebene, die sich um einen kleinen See, die Quelle der Doria, in einer Ausdehnung von etwa 2½ Miglien aus- breitet, lieſs er die Armee rasten. Die Entmuthigung hatte angefangen sich der Gemüther der Soldaten zu bemächtigen. Die immer schwieriger werdenden Wege, die zu Ende gehen- den Vorräthe, die Defileenmärsche unter beständigen Angriffen des unerreichbaren Feindes, die arg gelichteten Reihen, die hoffnungslose Lage der Versprengten und Verwundeten, das

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/416>, abgerufen am 24.11.2024.