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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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DRITTES BUCH. KAPITEL V.
Consuln Gaius Flaminius und Gnaeus Servilius nur so viel
Mannschaft als nöthig war um die vier Legionen wieder voll-
zählig zu machen; einzig die Reiterei wurde verstärkt. Sie
sollten die Nordgrenze decken und stellten sich desshalb an
den beiden Kunststrassen auf, die von Rom nach Norden
führten, und von denen die westliche damals in Arretium, die
östliche in Ariminum endigte; jene besetzte Gaius Flaminius,
diese Gnaeus Servilius. Während die Truppen aus den Pofestun-
gen wohl zu Wasser ihren Corps wieder zugeführt wurden, er-
warteten hier die Consuln den Beginn der besseren Jahreszeit
um in der Defensive die Apenninpässe zu besetzen und zur
Offensive übergehend in das Pothal hinabzusteigen und etwa bei
Placentia sich die Hand zu reichen. Allein Hannibal hatte keines-
wegs die Absicht das Pothal zu vertheidigen. Er kannte Rom
besser vielleicht als die Römer es selbst kannten, und wusste
sehr genau, wie entschieden er der Schwächere war und es
blieb trotz der glänzenden Schlacht an der Trebia; er wusste
auch, dass sein letztes Ziel, die Demüthigung Roms, von dem
zähen römischen Trotz weder durch Schreck noch durch Ueber-
rumpelung zu erreichen sei, sondern nur durch die vollständige
Ueberwältigung der stolzen Stadt. Es lag klar am Tage, wie un-
endlich dem Feinde, dem von daheim nur unsichere und unre-
gelmässige Unterstützung zukam und der in Italien zunächst nur
auf das schwankende und launische Keltenvolk sich zu lehnen
vermochte, die italische Eidgenossenschaft an politischer Festig-
keit und an militärischen Hülfsmitteln überlegen war; und wie
tief trotz aller angewandten Mühe der punische Fusssoldat
unter dem Legionar taktisch stand, hatte die Defensive Scipios
und der glänzende Rückzug der geschlagenen Infanterie an
der Trebia vollkommen erwiesen. Aus dieser Einsicht flossen
die beiden Grundgedanken, die Hannibals ganze Handlungs-
weise in Italien bestimmt haben: die Führung des Krieges
mit stetem Wechsel des Operationsplans und des Kriegsschau-
platzes, gewissermassen abenteuernd zu bewerkstelligen; die
Beendigung aber nicht von den militärischen Erfolgen zu er-
warten, sondern von den politischen, von der allmählichen
Lockerung und der endlichen Sprengung der italischen Eid-
genossenschaft. Jene Führung war nothwendig, weil Hannibal
als der schwächere Theil verloren war, so wie der Krieg zum
Stehen kam, und nur, wenn der Gegner stets durch unver-
muthete Combinationen deroutirt ward, das Einzige, was er
gegen so viele Nachtheile in die Wagschale zu werfen hatte,

DRITTES BUCH. KAPITEL V.
Consuln Gaius Flaminius und Gnaeus Servilius nur so viel
Mannschaft als nöthig war um die vier Legionen wieder voll-
zählig zu machen; einzig die Reiterei wurde verstärkt. Sie
sollten die Nordgrenze decken und stellten sich deſshalb an
den beiden Kunststraſsen auf, die von Rom nach Norden
führten, und von denen die westliche damals in Arretium, die
östliche in Ariminum endigte; jene besetzte Gaius Flaminius,
diese Gnaeus Servilius. Während die Truppen aus den Pofestun-
gen wohl zu Wasser ihren Corps wieder zugeführt wurden, er-
warteten hier die Consuln den Beginn der besseren Jahreszeit
um in der Defensive die Apenninpässe zu besetzen und zur
Offensive übergehend in das Pothal hinabzusteigen und etwa bei
Placentia sich die Hand zu reichen. Allein Hannibal hatte keines-
wegs die Absicht das Pothal zu vertheidigen. Er kannte Rom
besser vielleicht als die Römer es selbst kannten, und wuſste
sehr genau, wie entschieden er der Schwächere war und es
blieb trotz der glänzenden Schlacht an der Trebia; er wuſste
auch, daſs sein letztes Ziel, die Demüthigung Roms, von dem
zähen römischen Trotz weder durch Schreck noch durch Ueber-
rumpelung zu erreichen sei, sondern nur durch die vollständige
Ueberwältigung der stolzen Stadt. Es lag klar am Tage, wie un-
endlich dem Feinde, dem von daheim nur unsichere und unre-
gelmäſsige Unterstützung zukam und der in Italien zunächst nur
auf das schwankende und launische Keltenvolk sich zu lehnen
vermochte, die italische Eidgenossenschaft an politischer Festig-
keit und an militärischen Hülfsmitteln überlegen war; und wie
tief trotz aller angewandten Mühe der punische Fuſssoldat
unter dem Legionar taktisch stand, hatte die Defensive Scipios
und der glänzende Rückzug der geschlagenen Infanterie an
der Trebia vollkommen erwiesen. Aus dieser Einsicht flossen
die beiden Grundgedanken, die Hannibals ganze Handlungs-
weise in Italien bestimmt haben: die Führung des Krieges
mit stetem Wechsel des Operationsplans und des Kriegsschau-
platzes, gewissermaſsen abenteuernd zu bewerkstelligen; die
Beendigung aber nicht von den militärischen Erfolgen zu er-
warten, sondern von den politischen, von der allmählichen
Lockerung und der endlichen Sprengung der italischen Eid-
genossenschaft. Jene Führung war nothwendig, weil Hannibal
als der schwächere Theil verloren war, so wie der Krieg zum
Stehen kam, und nur, wenn der Gegner stets durch unver-
muthete Combinationen deroutirt ward, das Einzige, was er
gegen so viele Nachtheile in die Wagschale zu werfen hatte,

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[412/0426] DRITTES BUCH. KAPITEL V. Consuln Gaius Flaminius und Gnaeus Servilius nur so viel Mannschaft als nöthig war um die vier Legionen wieder voll- zählig zu machen; einzig die Reiterei wurde verstärkt. Sie sollten die Nordgrenze decken und stellten sich deſshalb an den beiden Kunststraſsen auf, die von Rom nach Norden führten, und von denen die westliche damals in Arretium, die östliche in Ariminum endigte; jene besetzte Gaius Flaminius, diese Gnaeus Servilius. Während die Truppen aus den Pofestun- gen wohl zu Wasser ihren Corps wieder zugeführt wurden, er- warteten hier die Consuln den Beginn der besseren Jahreszeit um in der Defensive die Apenninpässe zu besetzen und zur Offensive übergehend in das Pothal hinabzusteigen und etwa bei Placentia sich die Hand zu reichen. Allein Hannibal hatte keines- wegs die Absicht das Pothal zu vertheidigen. Er kannte Rom besser vielleicht als die Römer es selbst kannten, und wuſste sehr genau, wie entschieden er der Schwächere war und es blieb trotz der glänzenden Schlacht an der Trebia; er wuſste auch, daſs sein letztes Ziel, die Demüthigung Roms, von dem zähen römischen Trotz weder durch Schreck noch durch Ueber- rumpelung zu erreichen sei, sondern nur durch die vollständige Ueberwältigung der stolzen Stadt. Es lag klar am Tage, wie un- endlich dem Feinde, dem von daheim nur unsichere und unre- gelmäſsige Unterstützung zukam und der in Italien zunächst nur auf das schwankende und launische Keltenvolk sich zu lehnen vermochte, die italische Eidgenossenschaft an politischer Festig- keit und an militärischen Hülfsmitteln überlegen war; und wie tief trotz aller angewandten Mühe der punische Fuſssoldat unter dem Legionar taktisch stand, hatte die Defensive Scipios und der glänzende Rückzug der geschlagenen Infanterie an der Trebia vollkommen erwiesen. Aus dieser Einsicht flossen die beiden Grundgedanken, die Hannibals ganze Handlungs- weise in Italien bestimmt haben: die Führung des Krieges mit stetem Wechsel des Operationsplans und des Kriegsschau- platzes, gewissermaſsen abenteuernd zu bewerkstelligen; die Beendigung aber nicht von den militärischen Erfolgen zu er- warten, sondern von den politischen, von der allmählichen Lockerung und der endlichen Sprengung der italischen Eid- genossenschaft. Jene Führung war nothwendig, weil Hannibal als der schwächere Theil verloren war, so wie der Krieg zum Stehen kam, und nur, wenn der Gegner stets durch unver- muthete Combinationen deroutirt ward, das Einzige, was er gegen so viele Nachtheile in die Wagschale zu werfen hatte,

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/426>, abgerufen am 24.11.2024.