Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.HANNIBALISCHER KRIEG. solchen Aufrufs verstummte das demagogische Geklatsch;fortan gedachte man in Rom nur wie man gemeinsam die Noth zu wenden im Stande sei. In allem ging der Senat voran und gab den Bürgern das Vertrauen auf sich und auf die Zukunft zurück. Er bewahrte seine feste und strenge Haltung, während die Boten von allen Seiten nach Rom eilten um die verlorenen Schlachten, den Uebertritt der Bundes- genossen, die Aufhebung von Posten und Magazinen zu be- richten, um Verstärkung zu begehren für das Pothal und für Sicilien, während Italien preisgegeben und Rom selbst fast unbesetzt war. Das Zusammenströmen der Menge an den Thoren ward untersagt, die Gaffer und die Weiber in die Häuser gewiesen, die Trauerzeit um die Gefallenen auf dreissig Tage beschränkt, damit der Dienst der freudigen Götter, von dem das Trauergewand ausschloss, nicht allzulange unterbrochen werde -- denn so gross war die Zahl der Gefallenen, dass fast in keiner Familie die Todtenklage fehlte. Was vom Schlachtfeld sich gerettet hatte, war indess durch zwei tüchtige Kriegstribunen, Appius Claudius und Publius Scipio den Sohn, in Canusium gesammelt worden; der letztere verstand es durch seine stolze Begeisterung und durch die guten Schwerter sei- ner Getreuen diejenigen vornehmen jungen Herren auf andere Gedanken zu bringen, die in bequemer Verzweiflung an der Rettung des Vaterlandes über das Meer zu entweichen ge- dachten. Zu ihnen begab sich mit seiner Handvoll Leute der Consul Marcus Varro; allmählich fanden sich dort etwa zwei Legionen zusammen, die der Senat zu reorganisiren und zu schimpflichem und unbesoldetem Kriegsdienst zu degradiren befahl. Der unfähige Feldherr ward unter einem schicklichen Vorwand nach Rom zurückberufen; der Prätor Marcus Claudius Marcellus, der bestimmt gewesen war mit der Flotte von Ostia nach Sicilien abzugehen, übernahm den Oberbefehl. Eine kampffähige Armee zu organisiren strengte man die äussersten Kräfte an. Die Latiner wurden beschickt um Hülfe in der gemeinschaftlichen Gefahr; Rom selbst ging mit dem Beispiel voran und rief die ganze Mannschaft bis ins Knaben- alter unter die Waffen, bewaffnete die Schuldknechte und die Verbrecher, ja sogar achttausend vom Staat angekaufte Sklaven stellte man ein in das Heer. Da es an Waffen fehlte, nahm man die alten Beutestücke aus den Tempeln und setzte Fabriken und Gewerke überall in Thätigkeit. Der Senat ward ergänzt -- nicht, wie ängstliche Patrioten forderten, HANNIBALISCHER KRIEG. solchen Aufrufs verstummte das demagogische Geklatsch;fortan gedachte man in Rom nur wie man gemeinsam die Noth zu wenden im Stande sei. In allem ging der Senat voran und gab den Bürgern das Vertrauen auf sich und auf die Zukunft zurück. Er bewahrte seine feste und strenge Haltung, während die Boten von allen Seiten nach Rom eilten um die verlorenen Schlachten, den Uebertritt der Bundes- genossen, die Aufhebung von Posten und Magazinen zu be- richten, um Verstärkung zu begehren für das Pothal und für Sicilien, während Italien preisgegeben und Rom selbst fast unbesetzt war. Das Zusammenströmen der Menge an den Thoren ward untersagt, die Gaffer und die Weiber in die Häuser gewiesen, die Trauerzeit um die Gefallenen auf dreiſsig Tage beschränkt, damit der Dienst der freudigen Götter, von dem das Trauergewand ausschloſs, nicht allzulange unterbrochen werde — denn so groſs war die Zahl der Gefallenen, daſs fast in keiner Familie die Todtenklage fehlte. Was vom Schlachtfeld sich gerettet hatte, war indeſs durch zwei tüchtige Kriegstribunen, Appius Claudius und Publius Scipio den Sohn, in Canusium gesammelt worden; der letztere verstand es durch seine stolze Begeisterung und durch die guten Schwerter sei- ner Getreuen diejenigen vornehmen jungen Herren auf andere Gedanken zu bringen, die in bequemer Verzweiflung an der Rettung des Vaterlandes über das Meer zu entweichen ge- dachten. Zu ihnen begab sich mit seiner Handvoll Leute der Consul Marcus Varro; allmählich fanden sich dort etwa zwei Legionen zusammen, die der Senat zu reorganisiren und zu schimpflichem und unbesoldetem Kriegsdienst zu degradiren befahl. Der unfähige Feldherr ward unter einem schicklichen Vorwand nach Rom zurückberufen; der Prätor Marcus Claudius Marcellus, der bestimmt gewesen war mit der Flotte von Ostia nach Sicilien abzugehen, übernahm den Oberbefehl. Eine kampffähige Armee zu organisiren strengte man die äuſsersten Kräfte an. Die Latiner wurden beschickt um Hülfe in der gemeinschaftlichen Gefahr; Rom selbst ging mit dem Beispiel voran und rief die ganze Mannschaft bis ins Knaben- alter unter die Waffen, bewaffnete die Schuldknechte und die Verbrecher, ja sogar achttausend vom Staat angekaufte Sklaven stellte man ein in das Heer. Da es an Waffen fehlte, nahm man die alten Beutestücke aus den Tempeln und setzte Fabriken und Gewerke überall in Thätigkeit. Der Senat ward ergänzt — nicht, wie ängstliche Patrioten forderten, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0443" n="429"/><fw place="top" type="header">HANNIBALISCHER KRIEG.</fw><lb/> solchen Aufrufs verstummte das demagogische Geklatsch;<lb/> fortan gedachte man in Rom nur wie man gemeinsam die<lb/> Noth zu wenden im Stande sei. In allem ging der Senat<lb/> voran und gab den Bürgern das Vertrauen auf sich und auf<lb/> die Zukunft zurück. Er bewahrte seine feste und strenge<lb/> Haltung, während die Boten von allen Seiten nach Rom eilten<lb/> um die verlorenen Schlachten, den Uebertritt der Bundes-<lb/> genossen, die Aufhebung von Posten und Magazinen zu be-<lb/> richten, um Verstärkung zu begehren für das Pothal und für<lb/> Sicilien, während Italien preisgegeben und Rom selbst fast<lb/> unbesetzt war. 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HANNIBALISCHER KRIEG.
solchen Aufrufs verstummte das demagogische Geklatsch;
fortan gedachte man in Rom nur wie man gemeinsam die
Noth zu wenden im Stande sei. In allem ging der Senat
voran und gab den Bürgern das Vertrauen auf sich und auf
die Zukunft zurück. Er bewahrte seine feste und strenge
Haltung, während die Boten von allen Seiten nach Rom eilten
um die verlorenen Schlachten, den Uebertritt der Bundes-
genossen, die Aufhebung von Posten und Magazinen zu be-
richten, um Verstärkung zu begehren für das Pothal und für
Sicilien, während Italien preisgegeben und Rom selbst fast
unbesetzt war. Das Zusammenströmen der Menge an den
Thoren ward untersagt, die Gaffer und die Weiber in die Häuser
gewiesen, die Trauerzeit um die Gefallenen auf dreiſsig Tage
beschränkt, damit der Dienst der freudigen Götter, von dem
das Trauergewand ausschloſs, nicht allzulange unterbrochen
werde — denn so groſs war die Zahl der Gefallenen, daſs
fast in keiner Familie die Todtenklage fehlte. Was vom
Schlachtfeld sich gerettet hatte, war indeſs durch zwei tüchtige
Kriegstribunen, Appius Claudius und Publius Scipio den Sohn,
in Canusium gesammelt worden; der letztere verstand es durch
seine stolze Begeisterung und durch die guten Schwerter sei-
ner Getreuen diejenigen vornehmen jungen Herren auf andere
Gedanken zu bringen, die in bequemer Verzweiflung an der
Rettung des Vaterlandes über das Meer zu entweichen ge-
dachten. Zu ihnen begab sich mit seiner Handvoll Leute
der Consul Marcus Varro; allmählich fanden sich dort etwa
zwei Legionen zusammen, die der Senat zu reorganisiren und
zu schimpflichem und unbesoldetem Kriegsdienst zu degradiren
befahl. Der unfähige Feldherr ward unter einem schicklichen
Vorwand nach Rom zurückberufen; der Prätor Marcus Claudius
Marcellus, der bestimmt gewesen war mit der Flotte von
Ostia nach Sicilien abzugehen, übernahm den Oberbefehl.
Eine kampffähige Armee zu organisiren strengte man die
äuſsersten Kräfte an. Die Latiner wurden beschickt um Hülfe
in der gemeinschaftlichen Gefahr; Rom selbst ging mit dem
Beispiel voran und rief die ganze Mannschaft bis ins Knaben-
alter unter die Waffen, bewaffnete die Schuldknechte und die
Verbrecher, ja sogar achttausend vom Staat angekaufte Sklaven
stellte man ein in das Heer. Da es an Waffen fehlte, nahm
man die alten Beutestücke aus den Tempeln und setzte
Fabriken und Gewerke überall in Thätigkeit. Der Senat
ward ergänzt — nicht, wie ängstliche Patrioten forderten,
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