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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

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VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
im Stande war die Tragweite ihrer Beschlüsse zu fassen. In
der That war das Volk weniger competent als je und während
die Macht des Senats wie der Magistrate und überhaupt aller
verfassungsmässigen Gewalten beschränkt, die Regierung auf
Schritt und Tritt gekreuzt und beirrt ward, begreiflicher Weise
eben am meisten, wo sie am meisten in ihrem guten Recht
war, erweiterte jede Ausdehnung der sogenannten Volkscom-
petenz bloss die Macht der factiösen Minorität und der ein-
zelnen Ehrgeizigen. Freilich war das Uebel erst im Beginnen;
die neuen Parteien, die senatorische und die populare, waren
noch nicht dahin gelangt auch nur ihre Lager vollständig ab-
zustecken. Der gute und verständige Sinn in der Bürger-
schaft war nicht erloschen und obwohl in der Regel nicht er
in den Comitien entschied, so war es doch nicht unmöglich
wenn es galt ihn auch in diesen wieder zu erwecken, sei es
durch das Wort eines angesehenen Mannes, sei es durch die
lautere Stimme der Noth und der Schande. So wurden Mar-
cellus und Paullus vom Volk zu Feldherren gewählt und so
gelang es die Einwilligung des Volkes zu dem zweiten Krieg
gegen Philippos zu erwirken. Aber dieses Mittel erwies sich
nur wirksam im äussersten Fall. Für die regelmässigen An-
gelegenheiten stand der Regierung zwar verfassungsmässig die
Dictatur zu Gebot; aber bei der steigenden demokratischen
Tendenz war es nicht mehr möglich von dieser unpopulären
Magistratur Gebrauch zu machen und seit der Dictatur des
Quintus Fabius 537 und der Reaction dagegen, die dem In-
stitut den Todesstoss gegeben, war sie thatsächlich beseitigt.
Hauptsächlich stützte desshalb der Senat sich auf das popu-
läre Tribunat, das zwar eingeführt war um den Senat zu
lähmen, aber nach der Ausgleichung der ständischen Kämpfe
das Mittel geworden war, durch das der Senat einzig sich
hielt; denn indem jedem der zehn jetzt im Senat zu Sitz
und Stimme berechtigten Volkstribunen das Recht zustand
jeden Volksbeschluss durch sein Einschreiten zu cassiren und
die Beamten zu verhaften, vermochte durch sie der Senat
einigermassen die Comitien und die factiöse Opposition im
Zaume und die Staatsmaschine im Gleise zu halten (S. 201).
Im minderen Grade wurden zu gleichem Zweck die sacralen
Institutionen gebraucht oder vielmehr gemissbraucht. Allein
dass diese Mittel nicht reichten, und namentlich die Wahlen
vollständig dem Zufall oder der Intrigue anheimfallen mussten,
leuchtet ein. Augenblicklich war der Zustand noch erträglich,

VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
im Stande war die Tragweite ihrer Beschlüsse zu fassen. In
der That war das Volk weniger competent als je und während
die Macht des Senats wie der Magistrate und überhaupt aller
verfassungsmäſsigen Gewalten beschränkt, die Regierung auf
Schritt und Tritt gekreuzt und beirrt ward, begreiflicher Weise
eben am meisten, wo sie am meisten in ihrem guten Recht
war, erweiterte jede Ausdehnung der sogenannten Volkscom-
petenz bloſs die Macht der factiösen Minorität und der ein-
zelnen Ehrgeizigen. Freilich war das Uebel erst im Beginnen;
die neuen Parteien, die senatorische und die populare, waren
noch nicht dahin gelangt auch nur ihre Lager vollständig ab-
zustecken. Der gute und verständige Sinn in der Bürger-
schaft war nicht erloschen und obwohl in der Regel nicht er
in den Comitien entschied, so war es doch nicht unmöglich
wenn es galt ihn auch in diesen wieder zu erwecken, sei es
durch das Wort eines angesehenen Mannes, sei es durch die
lautere Stimme der Noth und der Schande. So wurden Mar-
cellus und Paullus vom Volk zu Feldherren gewählt und so
gelang es die Einwilligung des Volkes zu dem zweiten Krieg
gegen Philippos zu erwirken. Aber dieses Mittel erwies sich
nur wirksam im äuſsersten Fall. Für die regelmäſsigen An-
gelegenheiten stand der Regierung zwar verfassungsmäſsig die
Dictatur zu Gebot; aber bei der steigenden demokratischen
Tendenz war es nicht mehr möglich von dieser unpopulären
Magistratur Gebrauch zu machen und seit der Dictatur des
Quintus Fabius 537 und der Reaction dagegen, die dem In-
stitut den Todesstoſs gegeben, war sie thatsächlich beseitigt.
Hauptsächlich stützte deſshalb der Senat sich auf das popu-
läre Tribunat, das zwar eingeführt war um den Senat zu
lähmen, aber nach der Ausgleichung der ständischen Kämpfe
das Mittel geworden war, durch das der Senat einzig sich
hielt; denn indem jedem der zehn jetzt im Senat zu Sitz
und Stimme berechtigten Volkstribunen das Recht zustand
jeden Volksbeschluſs durch sein Einschreiten zu cassiren und
die Beamten zu verhaften, vermochte durch sie der Senat
einigermaſsen die Comitien und die factiöse Opposition im
Zaume und die Staatsmaschine im Gleise zu halten (S. 201).
Im minderen Grade wurden zu gleichem Zweck die sacralen
Institutionen gebraucht oder vielmehr gemiſsbraucht. Allein
daſs diese Mittel nicht reichten, und namentlich die Wahlen
vollständig dem Zufall oder der Intrigue anheimfallen muſsten,
leuchtet ein. Augenblicklich war der Zustand noch erträglich,

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[607/0621] VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE. im Stande war die Tragweite ihrer Beschlüsse zu fassen. In der That war das Volk weniger competent als je und während die Macht des Senats wie der Magistrate und überhaupt aller verfassungsmäſsigen Gewalten beschränkt, die Regierung auf Schritt und Tritt gekreuzt und beirrt ward, begreiflicher Weise eben am meisten, wo sie am meisten in ihrem guten Recht war, erweiterte jede Ausdehnung der sogenannten Volkscom- petenz bloſs die Macht der factiösen Minorität und der ein- zelnen Ehrgeizigen. Freilich war das Uebel erst im Beginnen; die neuen Parteien, die senatorische und die populare, waren noch nicht dahin gelangt auch nur ihre Lager vollständig ab- zustecken. Der gute und verständige Sinn in der Bürger- schaft war nicht erloschen und obwohl in der Regel nicht er in den Comitien entschied, so war es doch nicht unmöglich wenn es galt ihn auch in diesen wieder zu erwecken, sei es durch das Wort eines angesehenen Mannes, sei es durch die lautere Stimme der Noth und der Schande. So wurden Mar- cellus und Paullus vom Volk zu Feldherren gewählt und so gelang es die Einwilligung des Volkes zu dem zweiten Krieg gegen Philippos zu erwirken. Aber dieses Mittel erwies sich nur wirksam im äuſsersten Fall. Für die regelmäſsigen An- gelegenheiten stand der Regierung zwar verfassungsmäſsig die Dictatur zu Gebot; aber bei der steigenden demokratischen Tendenz war es nicht mehr möglich von dieser unpopulären Magistratur Gebrauch zu machen und seit der Dictatur des Quintus Fabius 537 und der Reaction dagegen, die dem In- stitut den Todesstoſs gegeben, war sie thatsächlich beseitigt. Hauptsächlich stützte deſshalb der Senat sich auf das popu- läre Tribunat, das zwar eingeführt war um den Senat zu lähmen, aber nach der Ausgleichung der ständischen Kämpfe das Mittel geworden war, durch das der Senat einzig sich hielt; denn indem jedem der zehn jetzt im Senat zu Sitz und Stimme berechtigten Volkstribunen das Recht zustand jeden Volksbeschluſs durch sein Einschreiten zu cassiren und die Beamten zu verhaften, vermochte durch sie der Senat einigermaſsen die Comitien und die factiöse Opposition im Zaume und die Staatsmaschine im Gleise zu halten (S. 201). Im minderen Grade wurden zu gleichem Zweck die sacralen Institutionen gebraucht oder vielmehr gemiſsbraucht. Allein daſs diese Mittel nicht reichten, und namentlich die Wahlen vollständig dem Zufall oder der Intrigue anheimfallen muſsten, leuchtet ein. Augenblicklich war der Zustand noch erträglich,

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 607. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/621>, abgerufen am 22.11.2024.