Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS. Preis der Assignation der latinischen Domänen weitaus zu nied-rig. Schon dass der Senat es durchsetzte die sämmtlichen Nicht- bürger vor dem entscheidenden Abstimmungstag aus der Stadt weisen zu dürfen, zeigte das Schicksal, das dem Antrag selbst bevorstand. Als dann vor der Abstimmung ein College des Gra- cchus Livius Drusus gegen das Gesetz intercedirte, nahm das Volk diesen Einspruch in einer Weise auf, dass Gracchus nicht wagen konnte weiter zu gehen oder gar dem Drusus das Schick- sal des Marcus Octavius zu bereiten. -- Es war, wie es scheint, dieser Erfolg, der dem Senat den Muth gab zum Sturz des sieg- reichen Demagogen dieselbe Operation in grösserem Massstab zu wiederholen. Gracchus Macht ruhte auf der Kaufmannschaft und dem Proletariat, zunächst auf dem letzteren, das in diesem Kampf, in welchem militärischer Rückhalt beiderseits nicht vor- handen war, gleichsam die Rolle der Armee spielte. Es war ein- leuchtend, dass der Senat weder der Kaufmannschaft noch dem Proletariat ihre neuen Rechte abzuzwingen mächtig genug war; jeder Versuch die Getreidegesetze oder die neue Geschwornen- ordnung anzugreifen hätte in etwas plumperer oder etwas civili- sirterer Form zu einem Strassenkrawall geführt, dem der Senat völlig wehrlos gegenüber stand. Allein es war nicht minder ein- leuchtend, dass Gracchus selbst und diese Kaufleute und Proleta- rier einzig zusammengehalten wurden durch den gegenseitigen Vortheil und dass sowohl die Männer der materiellen Interessen als der eigentliche Pöbel ihre Posten und ihr Brotkorn ebenso von jedem andern zu nehmen bereit waren wie von Gaius Grac- chus. Gracchus Institutionen standen, für den Augenblick wenigstens, unerschütterlich fest mit Ausnahme einer einzigen: seiner eigenen Oberhauptschaft. Die Schwäche dieser lag darin, dass in Gracchus Verfassung zwischen Haupt und Heer schlech- terdings ein Treuverhältniss nicht bestand und in der neuen Ver- fassung wohl alle andern Elemente der Lebensfähigkeit vorhan- den waren, nur ein einziges nicht: das sittliche Band zwischen Herrscher und Beherrschten, ohne das jeder Staat auf thönernen Füssen steht. In der Verwerfung des Antrags die Latiner in den Bürgerverband aufzunehmen war es mit schneidender Deutlich- keit zu Tage gekommen, dass die Menge in der That niemals für Gracchus stimmte, sondern immer nur für sich; die Aristo- kratie entwarf den Plan dem Urheber der Getreidespenden und Landanweisungen auf seinem eigenen Boden die Schlacht anzu- bieten. Es versteht sich von selbst, dass der Senat dem Proleta- riat nicht bloss das Gleiche, was Gracchus ihm an Getreide und Röm. Gesch. II. 8
DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS. Preis der Assignation der latinischen Domänen weitaus zu nied-rig. Schon daſs der Senat es durchsetzte die sämmtlichen Nicht- bürger vor dem entscheidenden Abstimmungstag aus der Stadt weisen zu dürfen, zeigte das Schicksal, das dem Antrag selbst bevorstand. Als dann vor der Abstimmung ein College des Gra- cchus Livius Drusus gegen das Gesetz intercedirte, nahm das Volk diesen Einspruch in einer Weise auf, daſs Gracchus nicht wagen konnte weiter zu gehen oder gar dem Drusus das Schick- sal des Marcus Octavius zu bereiten. — Es war, wie es scheint, dieser Erfolg, der dem Senat den Muth gab zum Sturz des sieg- reichen Demagogen dieselbe Operation in gröſserem Maſsstab zu wiederholen. Gracchus Macht ruhte auf der Kaufmannschaft und dem Proletariat, zunächst auf dem letzteren, das in diesem Kampf, in welchem militärischer Rückhalt beiderseits nicht vor- handen war, gleichsam die Rolle der Armee spielte. Es war ein- leuchtend, daſs der Senat weder der Kaufmannschaft noch dem Proletariat ihre neuen Rechte abzuzwingen mächtig genug war; jeder Versuch die Getreidegesetze oder die neue Geschwornen- ordnung anzugreifen hätte in etwas plumperer oder etwas civili- sirterer Form zu einem Straſsenkrawall geführt, dem der Senat völlig wehrlos gegenüber stand. Allein es war nicht minder ein- leuchtend, daſs Gracchus selbst und diese Kaufleute und Proleta- rier einzig zusammengehalten wurden durch den gegenseitigen Vortheil und daſs sowohl die Männer der materiellen Interessen als der eigentliche Pöbel ihre Posten und ihr Brotkorn ebenso von jedem andern zu nehmen bereit waren wie von Gaius Grac- chus. Gracchus Institutionen standen, für den Augenblick wenigstens, unerschütterlich fest mit Ausnahme einer einzigen: seiner eigenen Oberhauptschaft. Die Schwäche dieser lag darin, daſs in Gracchus Verfassung zwischen Haupt und Heer schlech- terdings ein Treuverhältniſs nicht bestand und in der neuen Ver- fassung wohl alle andern Elemente der Lebensfähigkeit vorhan- den waren, nur ein einziges nicht: das sittliche Band zwischen Herrscher und Beherrschten, ohne das jeder Staat auf thönernen Füſsen steht. In der Verwerfung des Antrags die Latiner in den Bürgerverband aufzunehmen war es mit schneidender Deutlich- keit zu Tage gekommen, daſs die Menge in der That niemals für Gracchus stimmte, sondern immer nur für sich; die Aristo- kratie entwarf den Plan dem Urheber der Getreidespenden und Landanweisungen auf seinem eigenen Boden die Schlacht anzu- bieten. Es versteht sich von selbst, daſs der Senat dem Proleta- riat nicht bloſs das Gleiche, was Gracchus ihm an Getreide und Röm. Gesch. II. 8
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DIE REVOLUTION UND GAIUS GRACCHUS.
Preis der Assignation der latinischen Domänen weitaus zu nied-
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bürger vor dem entscheidenden Abstimmungstag aus der Stadt
weisen zu dürfen, zeigte das Schicksal, das dem Antrag selbst
bevorstand. Als dann vor der Abstimmung ein College des Gra-
cchus Livius Drusus gegen das Gesetz intercedirte, nahm das
Volk diesen Einspruch in einer Weise auf, daſs Gracchus nicht
wagen konnte weiter zu gehen oder gar dem Drusus das Schick-
sal des Marcus Octavius zu bereiten. — Es war, wie es scheint,
dieser Erfolg, der dem Senat den Muth gab zum Sturz des sieg-
reichen Demagogen dieselbe Operation in gröſserem Maſsstab zu
wiederholen. Gracchus Macht ruhte auf der Kaufmannschaft und
dem Proletariat, zunächst auf dem letzteren, das in diesem
Kampf, in welchem militärischer Rückhalt beiderseits nicht vor-
handen war, gleichsam die Rolle der Armee spielte. Es war ein-
leuchtend, daſs der Senat weder der Kaufmannschaft noch dem
Proletariat ihre neuen Rechte abzuzwingen mächtig genug war;
jeder Versuch die Getreidegesetze oder die neue Geschwornen-
ordnung anzugreifen hätte in etwas plumperer oder etwas civili-
sirterer Form zu einem Straſsenkrawall geführt, dem der Senat
völlig wehrlos gegenüber stand. Allein es war nicht minder ein-
leuchtend, daſs Gracchus selbst und diese Kaufleute und Proleta-
rier einzig zusammengehalten wurden durch den gegenseitigen
Vortheil und daſs sowohl die Männer der materiellen Interessen
als der eigentliche Pöbel ihre Posten und ihr Brotkorn ebenso
von jedem andern zu nehmen bereit waren wie von Gaius Grac-
chus. Gracchus Institutionen standen, für den Augenblick
wenigstens, unerschütterlich fest mit Ausnahme einer einzigen:
seiner eigenen Oberhauptschaft. Die Schwäche dieser lag darin,
daſs in Gracchus Verfassung zwischen Haupt und Heer schlech-
terdings ein Treuverhältniſs nicht bestand und in der neuen Ver-
fassung wohl alle andern Elemente der Lebensfähigkeit vorhan-
den waren, nur ein einziges nicht: das sittliche Band zwischen
Herrscher und Beherrschten, ohne das jeder Staat auf thönernen
Füſsen steht. In der Verwerfung des Antrags die Latiner in den
Bürgerverband aufzunehmen war es mit schneidender Deutlich-
keit zu Tage gekommen, daſs die Menge in der That niemals
für Gracchus stimmte, sondern immer nur für sich; die Aristo-
kratie entwarf den Plan dem Urheber der Getreidespenden und
Landanweisungen auf seinem eigenen Boden die Schlacht anzu-
bieten. Es versteht sich von selbst, daſs der Senat dem Proleta-
riat nicht bloſs das Gleiche, was Gracchus ihm an Getreide und
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