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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL V.
goriner (am See von Murten) den Jura *, und gelangten bis in das
Gebiet der Nitiobrogen (um Agen an der Garonne). Hier stiessen
sie auf das römische Heer unter dem Consul Lucius Cassius Lon-
ginus. Es gelang den Helvetiern dasselbe in einen Hinterhalt zu
locken, wobei der Feldherr selber und sein Legat, der Consular
Gaius Piso, mit dem grössten Theil der Soldaten ihren Tod fan-
den; der interimistische Oberbefehlshaber Gaius Popillius der
Mannschaft, die sich in das Lager gerettet hatte, capitulirte auf
Abzug unter dem Joch gegen Auslieferung der Hälfte der Habe,
die die Soldaten mit sich führten, und Stellung von Geisseln (647).
So bedenklich standen die Dinge für die Römer, dass eine der
wichtigsten Städte in ihrer eigenen Provinz, Tolosa sich gegen
sie erhob und die römische Besatzung in Fesseln legte. -- Indess
da die Kimbrer fortfuhren sich anderswo zu thun zu machen und
auch die Helvetier vorläufig die römische Provinz nicht weiter be-
lästigten, hatte der neue römische Oberfeldherr Quintus Servilius
Caepio volle Zeit, sich der Stadt Tolosa durch Verrath zu bemäch-
tigen und die in dem alten und berühmten Heiligthum des kelti-
schen Apollon aufgehäuften ungeheuren Schätze mit Musse zu lee-
ren -- ein erwünschter Gewinn für die bedrängte Staatskasse,
nur dass leider auf dem Transport der Gold- und Silberfässer
von Tolosa nach Massalia die Bedeckung von Räubern überfallen
und das Gold geraubt ward; wie es hiess, waren die Anstifter die-
ses Ueberfalles der Consul selbst und sein Stab (648). Inzwischen
beschränkte man sich gegen den Hauptfeind auf die strengste De-
fensive und hütete mit drei starken Heeren die römische Provinz,
bis es den Kimbrern gefallen würde den Angriff zu wiederholen. Sie
kamen wieder im J. 649 unter ihrem König Boiorix, diesmal ernst-
lich denkend an einen Einfall in Italien. Gegen sie befehligte am
rechten Rhoneufer der Proconsul Caepio, am linken der Consul
Gnaeus Mallius Maximus und unter ihm an der Spitze eines ab-
gesonderten Corps sein Legat, der Consular Marcus Aurelius Scau-
rus. Der erste Angriff traf diesen: er ward völlig geschlagen und
selbst gefangen in das feindliche Hauptquartier gebracht, wo der
kimbrische König, erzürnt über die stolze Warnung des gefan-

* Die gewöhnliche Annahme, dass die Toygener und Tigoriner mit den
Kimbrern zugleich in Gallien eingerückt seien, lässt sich auf Strabon 7,
293 nicht stützen und stimmt wenig zu dem gesonderten Auftreten der
Helvetier. Die Ueberlieferung über diesen Krieg ist übrigens in einer Weise
trümmerhaft, dass eine zusammenhängende Geschichtserzählung, völlig wie
bei den samnitischen Kriegen, nur Anspruch machen kann auf ungefähre
Richtigkeit.

VIERTES BUCH. KAPITEL V.
goriner (am See von Murten) den Jura *, und gelangten bis in das
Gebiet der Nitiobrogen (um Agen an der Garonne). Hier stieſsen
sie auf das römische Heer unter dem Consul Lucius Cassius Lon-
ginus. Es gelang den Helvetiern dasselbe in einen Hinterhalt zu
locken, wobei der Feldherr selber und sein Legat, der Consular
Gaius Piso, mit dem gröſsten Theil der Soldaten ihren Tod fan-
den; der interimistische Oberbefehlshaber Gaius Popillius der
Mannschaft, die sich in das Lager gerettet hatte, capitulirte auf
Abzug unter dem Joch gegen Auslieferung der Hälfte der Habe,
die die Soldaten mit sich führten, und Stellung von Geiſseln (647).
So bedenklich standen die Dinge für die Römer, daſs eine der
wichtigsten Städte in ihrer eigenen Provinz, Tolosa sich gegen
sie erhob und die römische Besatzung in Fesseln legte. — Indeſs
da die Kimbrer fortfuhren sich anderswo zu thun zu machen und
auch die Helvetier vorläufig die römische Provinz nicht weiter be-
lästigten, hatte der neue römische Oberfeldherr Quintus Servilius
Caepio volle Zeit, sich der Stadt Tolosa durch Verrath zu bemäch-
tigen und die in dem alten und berühmten Heiligthum des kelti-
schen Apollon aufgehäuften ungeheuren Schätze mit Muſse zu lee-
ren — ein erwünschter Gewinn für die bedrängte Staatskasse,
nur daſs leider auf dem Transport der Gold- und Silberfässer
von Tolosa nach Massalia die Bedeckung von Räubern überfallen
und das Gold geraubt ward; wie es hieſs, waren die Anstifter die-
ses Ueberfalles der Consul selbst und sein Stab (648). Inzwischen
beschränkte man sich gegen den Hauptfeind auf die strengste De-
fensive und hütete mit drei starken Heeren die römische Provinz,
bis es den Kimbrern gefallen würde den Angriff zu wiederholen. Sie
kamen wieder im J. 649 unter ihrem König Boiorix, diesmal ernst-
lich denkend an einen Einfall in Italien. Gegen sie befehligte am
rechten Rhoneufer der Proconsul Caepio, am linken der Consul
Gnaeus Mallius Maximus und unter ihm an der Spitze eines ab-
gesonderten Corps sein Legat, der Consular Marcus Aurelius Scau-
rus. Der erste Angriff traf diesen: er ward völlig geschlagen und
selbst gefangen in das feindliche Hauptquartier gebracht, wo der
kimbrische König, erzürnt über die stolze Warnung des gefan-

* Die gewöhnliche Annahme, daſs die Toygener und Tigoriner mit den
Kimbrern zugleich in Gallien eingerückt seien, läſst sich auf Strabon 7,
293 nicht stützen und stimmt wenig zu dem gesonderten Auftreten der
Helvetier. Die Ueberlieferung über diesen Krieg ist übrigens in einer Weise
trümmerhaft, daſs eine zusammenhängende Geschichtserzählung, völlig wie
bei den samnitischen Kriegen, nur Anspruch machen kann auf ungefähre
Richtigkeit.
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[168/0178] VIERTES BUCH. KAPITEL V. goriner (am See von Murten) den Jura *, und gelangten bis in das Gebiet der Nitiobrogen (um Agen an der Garonne). Hier stieſsen sie auf das römische Heer unter dem Consul Lucius Cassius Lon- ginus. Es gelang den Helvetiern dasselbe in einen Hinterhalt zu locken, wobei der Feldherr selber und sein Legat, der Consular Gaius Piso, mit dem gröſsten Theil der Soldaten ihren Tod fan- den; der interimistische Oberbefehlshaber Gaius Popillius der Mannschaft, die sich in das Lager gerettet hatte, capitulirte auf Abzug unter dem Joch gegen Auslieferung der Hälfte der Habe, die die Soldaten mit sich führten, und Stellung von Geiſseln (647). So bedenklich standen die Dinge für die Römer, daſs eine der wichtigsten Städte in ihrer eigenen Provinz, Tolosa sich gegen sie erhob und die römische Besatzung in Fesseln legte. — Indeſs da die Kimbrer fortfuhren sich anderswo zu thun zu machen und auch die Helvetier vorläufig die römische Provinz nicht weiter be- lästigten, hatte der neue römische Oberfeldherr Quintus Servilius Caepio volle Zeit, sich der Stadt Tolosa durch Verrath zu bemäch- tigen und die in dem alten und berühmten Heiligthum des kelti- schen Apollon aufgehäuften ungeheuren Schätze mit Muſse zu lee- ren — ein erwünschter Gewinn für die bedrängte Staatskasse, nur daſs leider auf dem Transport der Gold- und Silberfässer von Tolosa nach Massalia die Bedeckung von Räubern überfallen und das Gold geraubt ward; wie es hieſs, waren die Anstifter die- ses Ueberfalles der Consul selbst und sein Stab (648). Inzwischen beschränkte man sich gegen den Hauptfeind auf die strengste De- fensive und hütete mit drei starken Heeren die römische Provinz, bis es den Kimbrern gefallen würde den Angriff zu wiederholen. Sie kamen wieder im J. 649 unter ihrem König Boiorix, diesmal ernst- lich denkend an einen Einfall in Italien. Gegen sie befehligte am rechten Rhoneufer der Proconsul Caepio, am linken der Consul Gnaeus Mallius Maximus und unter ihm an der Spitze eines ab- gesonderten Corps sein Legat, der Consular Marcus Aurelius Scau- rus. Der erste Angriff traf diesen: er ward völlig geschlagen und selbst gefangen in das feindliche Hauptquartier gebracht, wo der kimbrische König, erzürnt über die stolze Warnung des gefan- * Die gewöhnliche Annahme, daſs die Toygener und Tigoriner mit den Kimbrern zugleich in Gallien eingerückt seien, läſst sich auf Strabon 7, 293 nicht stützen und stimmt wenig zu dem gesonderten Auftreten der Helvetier. Die Ueberlieferung über diesen Krieg ist übrigens in einer Weise trümmerhaft, daſs eine zusammenhängende Geschichtserzählung, völlig wie bei den samnitischen Kriegen, nur Anspruch machen kann auf ungefähre Richtigkeit.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/178>, abgerufen am 18.05.2024.