Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
Rom aus gegründetes Bürgermunicipium. Bestimmt nachweisen
lässt sich die neue Ordnung zuerst für die revolutionäre Colo-
nie Capua (S. 301) und keinem Zweifel unterliegt es, dass sie in
vollem Umfang erst eintrat, als sämmtliche italische Nichtbür-
gergemeinden in Folge des Bundesgenossenkriegs als Bürger-
gemeinden organisirt werden mussten. Ob schon das julische
Gesetz, ob die Censoren von 668, ob erst Sulla das Einzelne ge-
ordnet hat, lässt sich nicht entscheiden; die Uebertragung der
censorischen Geschäfte auf die Gerichtsherren scheint zwar nach
Analogie der sullanischen Beseitigung der Censur eingeführt zu
sein, kann aber auch ebenso gut auf die älteste latinische Verfas-
sung zurückgehen, die ja auch die Censur nicht kannte. Auf alle
Fälle ist diese dem eigentlichen Staat sich ein- und unterordnende
Stadtverfassung eines der merkwürdigsten und folgenreichsten
Erzeugnisse der sullanischen Zeit und des römischen Staatslebens
überhaupt. Staat und Stadt in einander zu fügen hat allerdings
das Alterthum ebenso wenig vermocht als es vermocht hat das
repräsentative Regiment und andere grosse Grundgedanken un-
seres heutigen Staatslebens aus sich zu entwickeln; aber es hat
seine politische Entwicklung bis an die Grenze geführt, wo die-
selbe die gegebenen Masse überwächst und sprengt, und vor allem
ist dies in Rom geschehen, das in jeder Beziehung an der Scheide
und an der Verbindung der alten und der neuen geistigen Welt
steht. In der sullanischen Verfassung ist die Urversammlung und
der städtische Charakter des Gemeinwesens Rom fast zur bedeu-
tungslosen Form zusammengeschwunden und dagegen in Italien
die innerhalb des Staates stehende Gemeinde schon vollständig
entwickelt; bis auf den Namen, der freilich in solchen Dingen die
Hälfte der Sache ist, sind in dieser letzten Verfassung der freien
Republik das Repräsentativsystem und der auf den Gemeinden
sich erbauende Staat durchgeführt. -- Das Gemeindewesen in
den Provinzen ward hiedurch nicht geändert; die Gemeinde-
behörden der unfreien Städte blieben vielmehr, von besonderen
Ausnahmen abgesehen, beschränkt auf Verwaltung und Polizei,
wovon allerdings eine gewisse Jurisdiction, z. B. über verbreche-
rische Sclaven, nicht zu trennen war.

Dieses war die Verfassung, die Lucius Cornelius Sulla der
Gemeinde Rom gegeben hat. Senat und Bürgerschaft, Ritter-
schaft und Proletariat, Italiker und Provinzialen nahmen sie hin,
wie sie vom Regenten ihnen dictirt ward, wenn nicht ohne zu
grollen, doch ohne sich aufzulehnen; nicht so die sullanischen
Offiziere. Das römische Heer hatte seinen Charakter gänzlich ver-

DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.
Rom aus gegründetes Bürgermunicipium. Bestimmt nachweisen
läſst sich die neue Ordnung zuerst für die revolutionäre Colo-
nie Capua (S. 301) und keinem Zweifel unterliegt es, daſs sie in
vollem Umfang erst eintrat, als sämmtliche italische Nichtbür-
gergemeinden in Folge des Bundesgenossenkriegs als Bürger-
gemeinden organisirt werden muſsten. Ob schon das julische
Gesetz, ob die Censoren von 668, ob erst Sulla das Einzelne ge-
ordnet hat, läſst sich nicht entscheiden; die Uebertragung der
censorischen Geschäfte auf die Gerichtsherren scheint zwar nach
Analogie der sullanischen Beseitigung der Censur eingeführt zu
sein, kann aber auch ebenso gut auf die älteste latinische Verfas-
sung zurückgehen, die ja auch die Censur nicht kannte. Auf alle
Fälle ist diese dem eigentlichen Staat sich ein- und unterordnende
Stadtverfassung eines der merkwürdigsten und folgenreichsten
Erzeugnisse der sullanischen Zeit und des römischen Staatslebens
überhaupt. Staat und Stadt in einander zu fügen hat allerdings
das Alterthum ebenso wenig vermocht als es vermocht hat das
repräsentative Regiment und andere groſse Grundgedanken un-
seres heutigen Staatslebens aus sich zu entwickeln; aber es hat
seine politische Entwicklung bis an die Grenze geführt, wo die-
selbe die gegebenen Maſse überwächst und sprengt, und vor allem
ist dies in Rom geschehen, das in jeder Beziehung an der Scheide
und an der Verbindung der alten und der neuen geistigen Welt
steht. In der sullanischen Verfassung ist die Urversammlung und
der städtische Charakter des Gemeinwesens Rom fast zur bedeu-
tungslosen Form zusammengeschwunden und dagegen in Italien
die innerhalb des Staates stehende Gemeinde schon vollständig
entwickelt; bis auf den Namen, der freilich in solchen Dingen die
Hälfte der Sache ist, sind in dieser letzten Verfassung der freien
Republik das Repräsentativsystem und der auf den Gemeinden
sich erbauende Staat durchgeführt. — Das Gemeindewesen in
den Provinzen ward hiedurch nicht geändert; die Gemeinde-
behörden der unfreien Städte blieben vielmehr, von besonderen
Ausnahmen abgesehen, beschränkt auf Verwaltung und Polizei,
wovon allerdings eine gewisse Jurisdiction, z. B. über verbreche-
rische Sclaven, nicht zu trennen war.

Dieses war die Verfassung, die Lucius Cornelius Sulla der
Gemeinde Rom gegeben hat. Senat und Bürgerschaft, Ritter-
schaft und Proletariat, Italiker und Provinzialen nahmen sie hin,
wie sie vom Regenten ihnen dictirt ward, wenn nicht ohne zu
grollen, doch ohne sich aufzulehnen; nicht so die sullanischen
Offiziere. Das römische Heer hatte seinen Charakter gänzlich ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0357" n="347"/><fw place="top" type="header">DIE SULLANISCHE VERFASSUNG.</fw><lb/>
Rom aus gegründetes Bürgermunicipium. Bestimmt nachweisen<lb/>&#x017F;st sich die neue Ordnung zuerst für die revolutionäre Colo-<lb/>
nie Capua (S. 301) und keinem Zweifel unterliegt es, da&#x017F;s sie in<lb/>
vollem Umfang erst eintrat, als sämmtliche italische Nichtbür-<lb/>
gergemeinden in Folge des Bundesgenossenkriegs als Bürger-<lb/>
gemeinden organisirt werden mu&#x017F;sten. Ob schon das julische<lb/>
Gesetz, ob die Censoren von 668, ob erst Sulla das Einzelne ge-<lb/>
ordnet hat, lä&#x017F;st sich nicht entscheiden; die Uebertragung der<lb/>
censorischen Geschäfte auf die Gerichtsherren scheint zwar nach<lb/>
Analogie der sullanischen Beseitigung der Censur eingeführt zu<lb/>
sein, kann aber auch ebenso gut auf die älteste latinische Verfas-<lb/>
sung zurückgehen, die ja auch die Censur nicht kannte. Auf alle<lb/>
Fälle ist diese dem eigentlichen Staat sich ein- und unterordnende<lb/>
Stadtverfassung eines der merkwürdigsten und folgenreichsten<lb/>
Erzeugnisse der sullanischen Zeit und des römischen Staatslebens<lb/>
überhaupt. Staat und Stadt in einander zu fügen hat allerdings<lb/>
das Alterthum ebenso wenig vermocht als es vermocht hat das<lb/>
repräsentative Regiment und andere gro&#x017F;se Grundgedanken un-<lb/>
seres heutigen Staatslebens aus sich zu entwickeln; aber es hat<lb/>
seine politische Entwicklung bis an die Grenze geführt, wo die-<lb/>
selbe die gegebenen Ma&#x017F;se überwächst und sprengt, und vor allem<lb/>
ist dies in Rom geschehen, das in jeder Beziehung an der Scheide<lb/>
und an der Verbindung der alten und der neuen geistigen Welt<lb/>
steht. In der sullanischen Verfassung ist die Urversammlung und<lb/>
der städtische Charakter des Gemeinwesens Rom fast zur bedeu-<lb/>
tungslosen Form zusammengeschwunden und dagegen in Italien<lb/>
die innerhalb des Staates stehende Gemeinde schon vollständig<lb/>
entwickelt; bis auf den Namen, der freilich in solchen Dingen die<lb/>
Hälfte der Sache ist, sind in dieser letzten Verfassung der freien<lb/>
Republik das Repräsentativsystem und der auf den Gemeinden<lb/>
sich erbauende Staat durchgeführt. &#x2014; Das Gemeindewesen in<lb/>
den Provinzen ward hiedurch nicht geändert; die Gemeinde-<lb/>
behörden der unfreien Städte blieben vielmehr, von besonderen<lb/>
Ausnahmen abgesehen, beschränkt auf Verwaltung und Polizei,<lb/>
wovon allerdings eine gewisse Jurisdiction, z. B. über verbreche-<lb/>
rische Sclaven, nicht zu trennen war.</p><lb/>
          <p>Dieses war die Verfassung, die Lucius Cornelius Sulla der<lb/>
Gemeinde Rom gegeben hat. Senat und Bürgerschaft, Ritter-<lb/>
schaft und Proletariat, Italiker und Provinzialen nahmen sie hin,<lb/>
wie sie vom Regenten ihnen dictirt ward, wenn nicht ohne zu<lb/>
grollen, doch ohne sich aufzulehnen; nicht so die sullanischen<lb/>
Offiziere. Das römische Heer hatte seinen Charakter gänzlich ver-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[347/0357] DIE SULLANISCHE VERFASSUNG. Rom aus gegründetes Bürgermunicipium. Bestimmt nachweisen läſst sich die neue Ordnung zuerst für die revolutionäre Colo- nie Capua (S. 301) und keinem Zweifel unterliegt es, daſs sie in vollem Umfang erst eintrat, als sämmtliche italische Nichtbür- gergemeinden in Folge des Bundesgenossenkriegs als Bürger- gemeinden organisirt werden muſsten. Ob schon das julische Gesetz, ob die Censoren von 668, ob erst Sulla das Einzelne ge- ordnet hat, läſst sich nicht entscheiden; die Uebertragung der censorischen Geschäfte auf die Gerichtsherren scheint zwar nach Analogie der sullanischen Beseitigung der Censur eingeführt zu sein, kann aber auch ebenso gut auf die älteste latinische Verfas- sung zurückgehen, die ja auch die Censur nicht kannte. Auf alle Fälle ist diese dem eigentlichen Staat sich ein- und unterordnende Stadtverfassung eines der merkwürdigsten und folgenreichsten Erzeugnisse der sullanischen Zeit und des römischen Staatslebens überhaupt. Staat und Stadt in einander zu fügen hat allerdings das Alterthum ebenso wenig vermocht als es vermocht hat das repräsentative Regiment und andere groſse Grundgedanken un- seres heutigen Staatslebens aus sich zu entwickeln; aber es hat seine politische Entwicklung bis an die Grenze geführt, wo die- selbe die gegebenen Maſse überwächst und sprengt, und vor allem ist dies in Rom geschehen, das in jeder Beziehung an der Scheide und an der Verbindung der alten und der neuen geistigen Welt steht. In der sullanischen Verfassung ist die Urversammlung und der städtische Charakter des Gemeinwesens Rom fast zur bedeu- tungslosen Form zusammengeschwunden und dagegen in Italien die innerhalb des Staates stehende Gemeinde schon vollständig entwickelt; bis auf den Namen, der freilich in solchen Dingen die Hälfte der Sache ist, sind in dieser letzten Verfassung der freien Republik das Repräsentativsystem und der auf den Gemeinden sich erbauende Staat durchgeführt. — Das Gemeindewesen in den Provinzen ward hiedurch nicht geändert; die Gemeinde- behörden der unfreien Städte blieben vielmehr, von besonderen Ausnahmen abgesehen, beschränkt auf Verwaltung und Polizei, wovon allerdings eine gewisse Jurisdiction, z. B. über verbreche- rische Sclaven, nicht zu trennen war. Dieses war die Verfassung, die Lucius Cornelius Sulla der Gemeinde Rom gegeben hat. Senat und Bürgerschaft, Ritter- schaft und Proletariat, Italiker und Provinzialen nahmen sie hin, wie sie vom Regenten ihnen dictirt ward, wenn nicht ohne zu grollen, doch ohne sich aufzulehnen; nicht so die sullanischen Offiziere. Das römische Heer hatte seinen Charakter gänzlich ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/357
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/357>, abgerufen am 18.12.2024.