Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.VIERTES BUCH. KAPITEL XIII. der Litteratur hatten diese Scherze nichts zu thun; sie wurdenvon Dilettanten wo und wie es ihnen beliebte aufgeführt und die Texte nicht geschrieben oder doch nicht veröffentlicht. Erst in dieser Periode überwies man das Atellanenstück an eigentliche Schauspieler und verknüpfte es, ähnlich wie das griechische Sa- tyrdrama, als Nachspiel namentlich mit den Tragödien; wo es denn nicht fern lag auch die schriftstellerische Thätigkeit hierauf zu erstrecken. Als Begründer dieser neuen Litteraturgattung trat in der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts* Lucius Pom- ponius aus der latinischen Colonie Bononia auf, an den sich bald ein anderer gleichfalls beliebter Atellanendichter Novius anschloss. So weit die nicht zahlreichen Trümmer und die Berichte der alten Litteratoren uns hier ein Urtheil gestatten, waren es kurze regel- mässig wohl einactige Possen, deren Reiz weniger auf der tollen und locker geknüpften Fabel beruhte als auf der drastischen Ab- conterfeiung einzelner Stände und Situationen. Gern wurden Festtage und öffentliche Acte komisch geschildert: ,die Hochzeit', ,der erste März', ,Pantalon Wahlcandidat'; ebenso fremde Natio- nalitäten, die transalpinischen Gallier, die Syrer; vor allem häufig erschienen auf den Brettern die einzelnen Gewerbe. Der Küster, der Wahrsager, der Vogelschauer, der Arzt, der Zöllner, der Ma- ler, Fischer, Bäcker gingen über die Bühne; die Ausrufer hatten viel zu leiden und mehr noch die Walker, die in der römischen Narrenwelt die Rolle unserer Schneider gespielt zu haben schei- nen. Wenn also dem mannigfaltigen städtischen Leben sein Recht namentlich bei Livius mit der zum Schauspiel sich entwickelnden Satura er- scheint, ist schlechterdings nicht haltbar. Zwischen dem Histrio und dem Atellanenspieler war der Unterschied ungefähr eben so gross wie heutzu- tage zwischen dem, der auf der Bühne und dem, der auf den Maskenball geht; auch zwischen dem Schauspiel, das bis auf Terenz keine Masken kannte, und der Atellane, die wesentlich auf der Charaktermaske beruhte, besteht ein ursprünglicher schlechterdings nicht auszugleichender Unterschied. Das Schauspiel ging aus von dem Flötenstück, das anfangs ohne alle Recitation bloss auf Gesang und Tanz sich beschränkte, sodann einen Text (satura), endlich durch Andronicus ein der griechischen Schaubühne entlehntes Li- bretto erhielt, bei dem die alten Flötenlieder ungefähr die Stelle des grie- chischen Chors einnahmen. Mit der Dilettantenposse berührt sich dieser Entwicklungsgang in den früheren Stadien nirgends. * Nach Eusebius blühte er um 664; Velleius nennt ihn Zeitgenossen
des Lucius Crassus (614-663) und Marcus Antonius (611-667). Die erste Angabe dürfte um ein Menschenalter zu hoch sein; die um 650 abge- kommene Rechnung nach Victoriaten (S. 381) kommt in seinen ,Malern' noch vor und um das Ende dieser Periode begegnen auch schon die Mimen, welche die Atellanen von der Bühne verdrängten. VIERTES BUCH. KAPITEL XIII. der Litteratur hatten diese Scherze nichts zu thun; sie wurdenvon Dilettanten wo und wie es ihnen beliebte aufgeführt und die Texte nicht geschrieben oder doch nicht veröffentlicht. Erst in dieser Periode überwies man das Atellanenstück an eigentliche Schauspieler und verknüpfte es, ähnlich wie das griechische Sa- tyrdrama, als Nachspiel namentlich mit den Tragödien; wo es denn nicht fern lag auch die schriftstellerische Thätigkeit hierauf zu erstrecken. Als Begründer dieser neuen Litteraturgattung trat in der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts* Lucius Pom- ponius aus der latinischen Colonie Bononia auf, an den sich bald ein anderer gleichfalls beliebter Atellanendichter Novius anschloſs. So weit die nicht zahlreichen Trümmer und die Berichte der alten Litteratoren uns hier ein Urtheil gestatten, waren es kurze regel- mäſsig wohl einactige Possen, deren Reiz weniger auf der tollen und locker geknüpften Fabel beruhte als auf der drastischen Ab- conterfeiung einzelner Stände und Situationen. Gern wurden Festtage und öffentliche Acte komisch geschildert: ‚die Hochzeit‘, ‚der erste März‘, ‚Pantalon Wahlcandidat‘; ebenso fremde Natio- nalitäten, die transalpinischen Gallier, die Syrer; vor allem häufig erschienen auf den Brettern die einzelnen Gewerbe. Der Küster, der Wahrsager, der Vogelschauer, der Arzt, der Zöllner, der Ma- ler, Fischer, Bäcker gingen über die Bühne; die Ausrufer hatten viel zu leiden und mehr noch die Walker, die in der römischen Narrenwelt die Rolle unserer Schneider gespielt zu haben schei- nen. Wenn also dem mannigfaltigen städtischen Leben sein Recht namentlich bei Livius mit der zum Schauspiel sich entwickelnden Satura er- scheint, ist schlechterdings nicht haltbar. Zwischen dem Histrio und dem Atellanenspieler war der Unterschied ungefähr eben so groſs wie heutzu- tage zwischen dem, der auf der Bühne und dem, der auf den Maskenball geht; auch zwischen dem Schauspiel, das bis auf Terenz keine Masken kannte, und der Atellane, die wesentlich auf der Charaktermaske beruhte, besteht ein ursprünglicher schlechterdings nicht auszugleichender Unterschied. Das Schauspiel ging aus von dem Flötenstück, das anfangs ohne alle Recitation bloſs auf Gesang und Tanz sich beschränkte, sodann einen Text (satura), endlich durch Andronicus ein der griechischen Schaubühne entlehntes Li- bretto erhielt, bei dem die alten Flötenlieder ungefähr die Stelle des grie- chischen Chors einnahmen. Mit der Dilettantenposse berührt sich dieser Entwicklungsgang in den früheren Stadien nirgends. * Nach Eusebius blühte er um 664; Velleius nennt ihn Zeitgenossen
des Lucius Crassus (614-663) und Marcus Antonius (611-667). Die erste Angabe dürfte um ein Menschenalter zu hoch sein; die um 650 abge- kommene Rechnung nach Victoriaten (S. 381) kommt in seinen ‚Malern‘ noch vor und um das Ende dieser Periode begegnen auch schon die Mimen, welche die Atellanen von der Bühne verdrängten. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0430" n="420"/><fw place="top" type="header">VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.</fw><lb/> der Litteratur hatten diese Scherze nichts zu thun; sie wurden<lb/> von Dilettanten wo und wie es ihnen beliebte aufgeführt und die<lb/> Texte nicht geschrieben oder doch nicht veröffentlicht. Erst in<lb/> dieser Periode überwies man das Atellanenstück an eigentliche<lb/> Schauspieler und verknüpfte es, ähnlich wie das griechische Sa-<lb/> tyrdrama, als Nachspiel namentlich mit den Tragödien; wo es<lb/> denn nicht fern lag auch die schriftstellerische Thätigkeit hierauf<lb/> zu erstrecken. Als Begründer dieser neuen Litteraturgattung trat<lb/> in der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts<note place="foot" n="*">Nach Eusebius blühte er um 664; Velleius nennt ihn Zeitgenossen<lb/> des Lucius Crassus (614-663) und Marcus Antonius (611-667). Die<lb/> erste Angabe dürfte um ein Menschenalter zu hoch sein; die um 650 abge-<lb/> kommene Rechnung nach Victoriaten (S. 381) kommt in seinen ‚Malern‘<lb/> noch vor und um das Ende dieser Periode begegnen auch schon die Mimen,<lb/> welche die Atellanen von der Bühne verdrängten.</note> Lucius Pom-<lb/> ponius aus der latinischen Colonie Bononia auf, an den sich bald<lb/> ein anderer gleichfalls beliebter Atellanendichter Novius anschloſs.<lb/> So weit die nicht zahlreichen Trümmer und die Berichte der alten<lb/> Litteratoren uns hier ein Urtheil gestatten, waren es kurze regel-<lb/> mäſsig wohl einactige Possen, deren Reiz weniger auf der tollen<lb/> und locker geknüpften Fabel beruhte als auf der drastischen Ab-<lb/> conterfeiung einzelner Stände und Situationen. Gern wurden<lb/> Festtage und öffentliche Acte komisch geschildert: ‚die Hochzeit‘,<lb/> ‚der erste März‘, ‚Pantalon Wahlcandidat‘; ebenso fremde Natio-<lb/> nalitäten, die transalpinischen Gallier, die Syrer; vor allem häufig<lb/> erschienen auf den Brettern die einzelnen Gewerbe. Der Küster,<lb/> der Wahrsager, der Vogelschauer, der Arzt, der Zöllner, der Ma-<lb/> ler, Fischer, Bäcker gingen über die Bühne; die Ausrufer hatten<lb/> viel zu leiden und mehr noch die Walker, die in der römischen<lb/> Narrenwelt die Rolle unserer Schneider gespielt zu haben schei-<lb/> nen. Wenn also dem mannigfaltigen städtischen Leben sein Recht<lb/><note xml:id="note-0430" prev="#note-0429" place="foot" n="**">namentlich bei Livius mit der zum Schauspiel sich entwickelnden Satura er-<lb/> scheint, ist schlechterdings nicht haltbar. Zwischen dem Histrio und dem<lb/> Atellanenspieler war der Unterschied ungefähr eben so groſs wie heutzu-<lb/> tage zwischen dem, der auf der Bühne und dem, der auf den Maskenball geht;<lb/><choice><sic>anch</sic><corr>auch</corr></choice> zwischen dem Schauspiel, das bis auf Terenz keine Masken kannte,<lb/> und der Atellane, die wesentlich auf der Charaktermaske beruhte, besteht<lb/> ein ursprünglicher schlechterdings nicht auszugleichender Unterschied. Das<lb/> Schauspiel ging aus von dem Flötenstück, das anfangs ohne alle Recitation<lb/> bloſs auf Gesang und Tanz sich beschränkte, sodann einen Text (<hi rendition="#i">satura</hi>),<lb/> endlich durch Andronicus ein der griechischen Schaubühne entlehntes Li-<lb/> bretto erhielt, bei dem die alten Flötenlieder ungefähr die Stelle des grie-<lb/> chischen Chors einnahmen. Mit der Dilettantenposse berührt sich dieser<lb/> Entwicklungsgang in den früheren Stadien nirgends.</note><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [420/0430]
VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
der Litteratur hatten diese Scherze nichts zu thun; sie wurden
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Texte nicht geschrieben oder doch nicht veröffentlicht. Erst in
dieser Periode überwies man das Atellanenstück an eigentliche
Schauspieler und verknüpfte es, ähnlich wie das griechische Sa-
tyrdrama, als Nachspiel namentlich mit den Tragödien; wo es
denn nicht fern lag auch die schriftstellerische Thätigkeit hierauf
zu erstrecken. Als Begründer dieser neuen Litteraturgattung trat
in der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts * Lucius Pom-
ponius aus der latinischen Colonie Bononia auf, an den sich bald
ein anderer gleichfalls beliebter Atellanendichter Novius anschloſs.
So weit die nicht zahlreichen Trümmer und die Berichte der alten
Litteratoren uns hier ein Urtheil gestatten, waren es kurze regel-
mäſsig wohl einactige Possen, deren Reiz weniger auf der tollen
und locker geknüpften Fabel beruhte als auf der drastischen Ab-
conterfeiung einzelner Stände und Situationen. Gern wurden
Festtage und öffentliche Acte komisch geschildert: ‚die Hochzeit‘,
‚der erste März‘, ‚Pantalon Wahlcandidat‘; ebenso fremde Natio-
nalitäten, die transalpinischen Gallier, die Syrer; vor allem häufig
erschienen auf den Brettern die einzelnen Gewerbe. Der Küster,
der Wahrsager, der Vogelschauer, der Arzt, der Zöllner, der Ma-
ler, Fischer, Bäcker gingen über die Bühne; die Ausrufer hatten
viel zu leiden und mehr noch die Walker, die in der römischen
Narrenwelt die Rolle unserer Schneider gespielt zu haben schei-
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* Nach Eusebius blühte er um 664; Velleius nennt ihn Zeitgenossen
des Lucius Crassus (614-663) und Marcus Antonius (611-667). Die
erste Angabe dürfte um ein Menschenalter zu hoch sein; die um 650 abge-
kommene Rechnung nach Victoriaten (S. 381) kommt in seinen ‚Malern‘
noch vor und um das Ende dieser Periode begegnen auch schon die Mimen,
welche die Atellanen von der Bühne verdrängten.
** namentlich bei Livius mit der zum Schauspiel sich entwickelnden Satura er-
scheint, ist schlechterdings nicht haltbar. Zwischen dem Histrio und dem
Atellanenspieler war der Unterschied ungefähr eben so groſs wie heutzu-
tage zwischen dem, der auf der Bühne und dem, der auf den Maskenball geht;
auch zwischen dem Schauspiel, das bis auf Terenz keine Masken kannte,
und der Atellane, die wesentlich auf der Charaktermaske beruhte, besteht
ein ursprünglicher schlechterdings nicht auszugleichender Unterschied. Das
Schauspiel ging aus von dem Flötenstück, das anfangs ohne alle Recitation
bloſs auf Gesang und Tanz sich beschränkte, sodann einen Text (satura),
endlich durch Andronicus ein der griechischen Schaubühne entlehntes Li-
bretto erhielt, bei dem die alten Flötenlieder ungefähr die Stelle des grie-
chischen Chors einnahmen. Mit der Dilettantenposse berührt sich dieser
Entwicklungsgang in den früheren Stadien nirgends.
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