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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL XIII.
eigniss, der individuelle Mensch, wie wunderbar sie auch erscheinen
mögen, sind in der That klein und gering, nichts als einzelne Mo-
mente, einzelne Räder in dem höchst künstlichen Mechanismus,
den man den Staat nennt. Insofern war Polybios allerdings wie
kein anderer geschaffen zur Darstellung der Geschichte Roms,
welche in der That das wunderbare Problem gelöst hat ein Volk
zu beispielloser innerer und äusserer Grösse heranzuführen, ohne
einen einzigen im höchsten Sinne genialen Staatsmann hervor-
zubringen und welche auf ihren einfachen Grundlagen mit wun-
derbarer fast mathematischer Folgerichtigkeit sich entwickelt hat.
Aber es rächte sich doch auch hier, wenn das Moment der Freiheit
in der Geschichte verkannt ward. Polybios Behandlung aller Fra-
gen, in denen Recht, Ehre, Religion zur Sprache kommen, ist
nicht bloss platt, sondern auch gründlich falsch. Dasselbe gilt
überall, wo eine genetische Construction erfordert wird; die rein
mechanischen Erklärungsversuche, die Polybios an die Stelle setzt,
sind mitunter geradezu zum Verzweifeln, wie es denn kaum eine
thörichtere politische Speculation giebt als die treffliche Verfas-
sung Roms aus einer verständigen Mischung monarchischer, ari-
stokratischer und demokratischer Elemente her- und aus der Vor-
trefflichkeit der Verfassung die Erfolge Roms abzuleiten. Die Auf-
fassung der Verhältnisse ist überall bis zum Erschrecken nüch-
tern und phantasielos, die geringschätzige und superkluge Art
die religiösen Dinge zu behandeln geradezu widerwärtig. Die Dar-
stellung, in bewusster Opposition gegen die übliche künstlerisch
stilisirte griechische Historiographie gehalten, ist wohl richtig
und deutlich, aber dünn und matt, öfter als billig in polemische
Excurse oder in memoirenhafte Schilderung der eigenen Erleb-
nisse sich verlaufend. Ein oppositioneller Zug geht durch die
ganze Arbeit; der Verfasser bestimmte seine Schrift zunächst für
die Römer und fand doch auch hier nur einen sehr kleinen Kreis,
der ihn verstand; er fühlte es, dass er den Römern ein Fremder,
seinen Landsleuten ein Abtrünniger blieb und dass er mit seiner
grossartigen Auffassung der Verhältnisse mehr der Zukunft als
der Gegenwart angehörte. Darum blieb er nicht frei von einer
gewissen Verstimmtheit und persönlichen Bitterkeit, die in seiner
Polemik gegen die flüchtigen oder gar feilen griechischen und die
unkritischen römischen Historiker öfters zänkisch und kleinlich
auftritt und aus dem Geschichtschreiber- in den Recensententon
fällt. Polybios ist kein liebenswürdiger Schriftsteller; aber wie
die Wahrheit und Wahrhaftigkeit mehr ist als alle Zier und Zier-
lichkeit, so ist vielleicht kein Schriftsteller des Alterthums zu

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eigniſs, der individuelle Mensch, wie wunderbar sie auch erscheinen
mögen, sind in der That klein und gering, nichts als einzelne Mo-
mente, einzelne Räder in dem höchst künstlichen Mechanismus,
den man den Staat nennt. Insofern war Polybios allerdings wie
kein anderer geschaffen zur Darstellung der Geschichte Roms,
welche in der That das wunderbare Problem gelöst hat ein Volk
zu beispielloser innerer und äuſserer Gröſse heranzuführen, ohne
einen einzigen im höchsten Sinne genialen Staatsmann hervor-
zubringen und welche auf ihren einfachen Grundlagen mit wun-
derbarer fast mathematischer Folgerichtigkeit sich entwickelt hat.
Aber es rächte sich doch auch hier, wenn das Moment der Freiheit
in der Geschichte verkannt ward. Polybios Behandlung aller Fra-
gen, in denen Recht, Ehre, Religion zur Sprache kommen, ist
nicht bloſs platt, sondern auch gründlich falsch. Dasselbe gilt
überall, wo eine genetische Construction erfordert wird; die rein
mechanischen Erklärungsversuche, die Polybios an die Stelle setzt,
sind mitunter geradezu zum Verzweifeln, wie es denn kaum eine
thörichtere politische Speculation giebt als die treffliche Verfas-
sung Roms aus einer verständigen Mischung monarchischer, ari-
stokratischer und demokratischer Elemente her- und aus der Vor-
trefflichkeit der Verfassung die Erfolge Roms abzuleiten. Die Auf-
fassung der Verhältnisse ist überall bis zum Erschrecken nüch-
tern und phantasielos, die geringschätzige und superkluge Art
die religiösen Dinge zu behandeln geradezu widerwärtig. Die Dar-
stellung, in bewuſster Opposition gegen die übliche künstlerisch
stilisirte griechische Historiographie gehalten, ist wohl richtig
und deutlich, aber dünn und matt, öfter als billig in polemische
Excurse oder in memoirenhafte Schilderung der eigenen Erleb-
nisse sich verlaufend. Ein oppositioneller Zug geht durch die
ganze Arbeit; der Verfasser bestimmte seine Schrift zunächst für
die Römer und fand doch auch hier nur einen sehr kleinen Kreis,
der ihn verstand; er fühlte es, daſs er den Römern ein Fremder,
seinen Landsleuten ein Abtrünniger blieb und daſs er mit seiner
groſsartigen Auffassung der Verhältnisse mehr der Zukunft als
der Gegenwart angehörte. Darum blieb er nicht frei von einer
gewissen Verstimmtheit und persönlichen Bitterkeit, die in seiner
Polemik gegen die flüchtigen oder gar feilen griechischen und die
unkritischen römischen Historiker öfters zänkisch und kleinlich
auftritt und aus dem Geschichtschreiber- in den Recensententon
fällt. Polybios ist kein liebenswürdiger Schriftsteller; aber wie
die Wahrheit und Wahrhaftigkeit mehr ist als alle Zier und Zier-
lichkeit, so ist vielleicht kein Schriftsteller des Alterthums zu

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[430/0440] VIERTES BUCH. KAPITEL XIII. eigniſs, der individuelle Mensch, wie wunderbar sie auch erscheinen mögen, sind in der That klein und gering, nichts als einzelne Mo- mente, einzelne Räder in dem höchst künstlichen Mechanismus, den man den Staat nennt. Insofern war Polybios allerdings wie kein anderer geschaffen zur Darstellung der Geschichte Roms, welche in der That das wunderbare Problem gelöst hat ein Volk zu beispielloser innerer und äuſserer Gröſse heranzuführen, ohne einen einzigen im höchsten Sinne genialen Staatsmann hervor- zubringen und welche auf ihren einfachen Grundlagen mit wun- derbarer fast mathematischer Folgerichtigkeit sich entwickelt hat. Aber es rächte sich doch auch hier, wenn das Moment der Freiheit in der Geschichte verkannt ward. Polybios Behandlung aller Fra- gen, in denen Recht, Ehre, Religion zur Sprache kommen, ist nicht bloſs platt, sondern auch gründlich falsch. Dasselbe gilt überall, wo eine genetische Construction erfordert wird; die rein mechanischen Erklärungsversuche, die Polybios an die Stelle setzt, sind mitunter geradezu zum Verzweifeln, wie es denn kaum eine thörichtere politische Speculation giebt als die treffliche Verfas- sung Roms aus einer verständigen Mischung monarchischer, ari- stokratischer und demokratischer Elemente her- und aus der Vor- trefflichkeit der Verfassung die Erfolge Roms abzuleiten. Die Auf- fassung der Verhältnisse ist überall bis zum Erschrecken nüch- tern und phantasielos, die geringschätzige und superkluge Art die religiösen Dinge zu behandeln geradezu widerwärtig. Die Dar- stellung, in bewuſster Opposition gegen die übliche künstlerisch stilisirte griechische Historiographie gehalten, ist wohl richtig und deutlich, aber dünn und matt, öfter als billig in polemische Excurse oder in memoirenhafte Schilderung der eigenen Erleb- nisse sich verlaufend. Ein oppositioneller Zug geht durch die ganze Arbeit; der Verfasser bestimmte seine Schrift zunächst für die Römer und fand doch auch hier nur einen sehr kleinen Kreis, der ihn verstand; er fühlte es, daſs er den Römern ein Fremder, seinen Landsleuten ein Abtrünniger blieb und daſs er mit seiner groſsartigen Auffassung der Verhältnisse mehr der Zukunft als der Gegenwart angehörte. Darum blieb er nicht frei von einer gewissen Verstimmtheit und persönlichen Bitterkeit, die in seiner Polemik gegen die flüchtigen oder gar feilen griechischen und die unkritischen römischen Historiker öfters zänkisch und kleinlich auftritt und aus dem Geschichtschreiber- in den Recensententon fällt. Polybios ist kein liebenswürdiger Schriftsteller; aber wie die Wahrheit und Wahrhaftigkeit mehr ist als alle Zier und Zier- lichkeit, so ist vielleicht kein Schriftsteller des Alterthums zu

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/440>, abgerufen am 23.11.2024.