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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
die Heerführung und die Rechtweisung waren. Rascher zum
Ziel führte die Demagogie und um so sicherer, je mehr sie nicht
die Sache angriff, sondern die Person; also vor allem die crimi-
nelle Belangung eines hochstehenden und unbeliebten Mannes.
Es ward Sitte, dass die bartlosen Jünglinge vornehmer Geburt,
um sich glänzend in das öffentliche Leben einzuführen, mit der
unreifen Leidenschaft ihrer knabenhaften Beredsamkeit die Rolle
Catos weiter spielten und sich aus eigener Machtvollkommenheit
zu Anwälten des Staats aufwarfen; man liess es geschehen, dass
das ernste Institut der Criminaljustiz und der politischen Polizei
ein Mittel für den Aemterbewerb ward. Aber noch rascher als
auf solchen immer noch indirecten Wegen empfahl man sich der
Menge geradezu durch Liebäugeleien, Nachsichtigkeiten, Artig-
keiten von feinerer oder gröberer Qualität. Der entwürdigende
Aemterbettel begann zu floriren; der Janhagel fing an es als sein
Recht zu fordern, dass der künftige Consul in jedem Lumpen
von der Gasse das souveräne Volk erkenne und ehre, wie ihm
denn auch durch die Verlegung der Gemeindeversammlungen
von der alten Dingstätte unter dem Rathhaus auf den Marktplatz
(um 609) eine förmliche Anerkennung seiner Unabhängigkeit
vom Senat und seiner vollständigen Freiheit zu Theil ward. Die
niederen Beamten, namentlich Aedilen und Praetoren, ja selbst
blosse Privatmänner suchten durch Veranstaltung oder, was noch
schlimmer war, durch Verheissung prachtvoller Volkslustbarkei-
ten bei der Menge sich in Gunst zu setzen; ja es begannen schon,
wie das um 595 erlassene Gesetz bezeugt, für die höheren
Staatsämter die Stimmen der Wähler geradezu um Geld feil zu
werden, während die Subalternposten, namentlich die sehr
einträglichen Schreiber- und Gerichtsdienerstellen sogar von
Rechtswegen käuflich wurden. Diese Uebelstände waren sehr arg,
aber bei weitem noch nicht das Aergste. Indem die regierende
Aristokratie der Wahlen wegen sich genöthigt sah Rücksicht auf
die Menge zu nehmen, wurden Beamte und Senat gezwungen bei
allen ihren Massregeln wenn nicht die Masse der Regierten doch
mindestens die hauptstädtische Bürgerschaft in einer Weise zu
schonen, die mit dem Wesen der Herrschaft unverträglich ist.
Einst war der Beamte innerhalb der verfassungsmässigen Schran-
ken aufgetreten als Herr und Gebieter; jetzt wurden die Consuln,
als sie pflichtmässig für den verhassten spanischen Dienst
strenge Aushebungen veranstalteten, von den Volkstribunen ins
Gefängniss geführt (603. 616). Einst hatte der Senat über Gut
und Blut der Bürger zum Besten des Vaterlandes unumschränkt

Röm. Gesch. II. 5

DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
die Heerführung und die Rechtweisung waren. Rascher zum
Ziel führte die Demagogie und um so sicherer, je mehr sie nicht
die Sache angriff, sondern die Person; also vor allem die crimi-
nelle Belangung eines hochstehenden und unbeliebten Mannes.
Es ward Sitte, daſs die bartlosen Jünglinge vornehmer Geburt,
um sich glänzend in das öffentliche Leben einzuführen, mit der
unreifen Leidenschaft ihrer knabenhaften Beredsamkeit die Rolle
Catos weiter spielten und sich aus eigener Machtvollkommenheit
zu Anwälten des Staats aufwarfen; man lieſs es geschehen, daſs
das ernste Institut der Criminaljustiz und der politischen Polizei
ein Mittel für den Aemterbewerb ward. Aber noch rascher als
auf solchen immer noch indirecten Wegen empfahl man sich der
Menge geradezu durch Liebäugeleien, Nachsichtigkeiten, Artig-
keiten von feinerer oder gröberer Qualität. Der entwürdigende
Aemterbettel begann zu floriren; der Janhagel fing an es als sein
Recht zu fordern, daſs der künftige Consul in jedem Lumpen
von der Gasse das souveräne Volk erkenne und ehre, wie ihm
denn auch durch die Verlegung der Gemeindeversammlungen
von der alten Dingstätte unter dem Rathhaus auf den Marktplatz
(um 609) eine förmliche Anerkennung seiner Unabhängigkeit
vom Senat und seiner vollständigen Freiheit zu Theil ward. Die
niederen Beamten, namentlich Aedilen und Praetoren, ja selbst
bloſse Privatmänner suchten durch Veranstaltung oder, was noch
schlimmer war, durch Verheiſsung prachtvoller Volkslustbarkei-
ten bei der Menge sich in Gunst zu setzen; ja es begannen schon,
wie das um 595 erlassene Gesetz bezeugt, für die höheren
Staatsämter die Stimmen der Wähler geradezu um Geld feil zu
werden, während die Subalternposten, namentlich die sehr
einträglichen Schreiber- und Gerichtsdienerstellen sogar von
Rechtswegen käuflich wurden. Diese Uebelstände waren sehr arg,
aber bei weitem noch nicht das Aergste. Indem die regierende
Aristokratie der Wahlen wegen sich genöthigt sah Rücksicht auf
die Menge zu nehmen, wurden Beamte und Senat gezwungen bei
allen ihren Maſsregeln wenn nicht die Masse der Regierten doch
mindestens die hauptstädtische Bürgerschaft in einer Weise zu
schonen, die mit dem Wesen der Herrschaft unverträglich ist.
Einst war der Beamte innerhalb der verfassungsmäſsigen Schran-
ken aufgetreten als Herr und Gebieter; jetzt wurden die Consuln,
als sie pflichtmäſsig für den verhaſsten spanischen Dienst
strenge Aushebungen veranstalteten, von den Volkstribunen ins
Gefängniſs geführt (603. 616). Einst hatte der Senat über Gut
und Blut der Bürger zum Besten des Vaterlandes unumschränkt

Röm. Gesch. II. 5
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[65/0075] DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS. die Heerführung und die Rechtweisung waren. Rascher zum Ziel führte die Demagogie und um so sicherer, je mehr sie nicht die Sache angriff, sondern die Person; also vor allem die crimi- nelle Belangung eines hochstehenden und unbeliebten Mannes. Es ward Sitte, daſs die bartlosen Jünglinge vornehmer Geburt, um sich glänzend in das öffentliche Leben einzuführen, mit der unreifen Leidenschaft ihrer knabenhaften Beredsamkeit die Rolle Catos weiter spielten und sich aus eigener Machtvollkommenheit zu Anwälten des Staats aufwarfen; man lieſs es geschehen, daſs das ernste Institut der Criminaljustiz und der politischen Polizei ein Mittel für den Aemterbewerb ward. Aber noch rascher als auf solchen immer noch indirecten Wegen empfahl man sich der Menge geradezu durch Liebäugeleien, Nachsichtigkeiten, Artig- keiten von feinerer oder gröberer Qualität. Der entwürdigende Aemterbettel begann zu floriren; der Janhagel fing an es als sein Recht zu fordern, daſs der künftige Consul in jedem Lumpen von der Gasse das souveräne Volk erkenne und ehre, wie ihm denn auch durch die Verlegung der Gemeindeversammlungen von der alten Dingstätte unter dem Rathhaus auf den Marktplatz (um 609) eine förmliche Anerkennung seiner Unabhängigkeit vom Senat und seiner vollständigen Freiheit zu Theil ward. Die niederen Beamten, namentlich Aedilen und Praetoren, ja selbst bloſse Privatmänner suchten durch Veranstaltung oder, was noch schlimmer war, durch Verheiſsung prachtvoller Volkslustbarkei- ten bei der Menge sich in Gunst zu setzen; ja es begannen schon, wie das um 595 erlassene Gesetz bezeugt, für die höheren Staatsämter die Stimmen der Wähler geradezu um Geld feil zu werden, während die Subalternposten, namentlich die sehr einträglichen Schreiber- und Gerichtsdienerstellen sogar von Rechtswegen käuflich wurden. Diese Uebelstände waren sehr arg, aber bei weitem noch nicht das Aergste. Indem die regierende Aristokratie der Wahlen wegen sich genöthigt sah Rücksicht auf die Menge zu nehmen, wurden Beamte und Senat gezwungen bei allen ihren Maſsregeln wenn nicht die Masse der Regierten doch mindestens die hauptstädtische Bürgerschaft in einer Weise zu schonen, die mit dem Wesen der Herrschaft unverträglich ist. Einst war der Beamte innerhalb der verfassungsmäſsigen Schran- ken aufgetreten als Herr und Gebieter; jetzt wurden die Consuln, als sie pflichtmäſsig für den verhaſsten spanischen Dienst strenge Aushebungen veranstalteten, von den Volkstribunen ins Gefängniſs geführt (603. 616). Einst hatte der Senat über Gut und Blut der Bürger zum Besten des Vaterlandes unumschränkt Röm. Gesch. II. 5

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/75>, abgerufen am 21.11.2024.