Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
tenloser Jüngling zum Retter Italiens sich aufzuwerfen. Er hiess
Tiberius Sempronius Gracchus (591-621). Sein Vater war
der gleichnamige streng conservative Mann (Consul 577. 591;
Censor 585), dessen Andenken die Spanier, mit denen er gekriegt
(I, 499) wie die Bürger, deren Rechte er beschränkt hatte (I,
603), seines ernsten und gerechten Sinnes wegen noch lange
nach seinem Tode mit Liebe und Ehrfurcht bewahrten. Seine
Mutter Cornelia war die Tochter des Siegers von Zama, welcher
den ihm persönlich verfeindeten Gracchus wegen seines edel-
müthigen Dazwischentretens in dem leidigen Prozess seines
Bruders (I, 570) sich zum Schwiegersohn erkoren hatte; sie
selbst war eine hochgebildete und bedeutende Frau, die nach
dem Tode ihres viel älteren Gemahls die Hand des Königs von
Aegypten zurück gewiesen hatte und im Andenken an den Ge-
mahl und den Vater die drei ihr gebliebenen Kinder erzog. Der
ältere von den beiden Söhnen Tiberius war eine gute und sitt-
liche Natur, sanften Blicks und ruhigen Wesens, wie es schien
eher bestimmt zu allem andern als zum Agitator der Massen.
Mit allen seinen Beziehungen und Anschauungen gehörte er dem
scipionischen Kreise an, dessen feine griechische und nationale
Durchbildung er und seine Geschwister theilten. Scipio Aemi-
lianus war zugleich sein Vetter und seiner Schwester Gemahl;
unter ihm hatte Tiberius als Achtzehnjähriger die Erstürmung Kar-
thagos mitgemacht und durch seine Tapferkeit das Lob des stren-
gen Feldherrn und kriegerische Auszeichnungen erworben. Dass
der tüchtige junge Mann die Anschauungen über den Verfall des
Staats an Haupt und Gliedern, wie sie in diesem Kreise gangbar
waren, die Gedanken an mögliche Reformen namentlich zur He-
bung des italischen Bauernstandes mit aller Lebendigkeit und
allem Rigorismus der Jugend in sich aufnahm und steigerte, ist
begreiflich; waren es doch nicht bloss die jungen Leute, denen das
Zurückweichen des Laelius vor der Durchführung seiner Reform-
ideen nicht verständig erschien, sondern schwach. Appius Clau-
dius, der gewesene Consul (611) und Censor (618), einer der
angesehensten Männer des Senats, tadelte mit all der gewaltsa-
men Leidenschaftlichkeit, die in dem Geschlecht der Claudier
erblich war und blieb, dass man den Plan der Domänenaufthei-
lung so rasch wieder habe fallen lassen; um so bitterer, wie es
scheint, weil er mit Scipio Aemilianus bei der Bewerbung um die
Censur in persönliche Conflicte gekommen war. Ebenso sprach
Publius Crassus Mucianus (S. 52) sich aus, der als Mensch und
Rechtsgelehrter im Senat wie in der Bürgerschaft hoch geachtet

DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
tenloser Jüngling zum Retter Italiens sich aufzuwerfen. Er hieſs
Tiberius Sempronius Gracchus (591-621). Sein Vater war
der gleichnamige streng conservative Mann (Consul 577. 591;
Censor 585), dessen Andenken die Spanier, mit denen er gekriegt
(I, 499) wie die Bürger, deren Rechte er beschränkt hatte (I,
603), seines ernsten und gerechten Sinnes wegen noch lange
nach seinem Tode mit Liebe und Ehrfurcht bewahrten. Seine
Mutter Cornelia war die Tochter des Siegers von Zama, welcher
den ihm persönlich verfeindeten Gracchus wegen seines edel-
müthigen Dazwischentretens in dem leidigen Prozeſs seines
Bruders (I, 570) sich zum Schwiegersohn erkoren hatte; sie
selbst war eine hochgebildete und bedeutende Frau, die nach
dem Tode ihres viel älteren Gemahls die Hand des Königs von
Aegypten zurück gewiesen hatte und im Andenken an den Ge-
mahl und den Vater die drei ihr gebliebenen Kinder erzog. Der
ältere von den beiden Söhnen Tiberius war eine gute und sitt-
liche Natur, sanften Blicks und ruhigen Wesens, wie es schien
eher bestimmt zu allem andern als zum Agitator der Massen.
Mit allen seinen Beziehungen und Anschauungen gehörte er dem
scipionischen Kreise an, dessen feine griechische und nationale
Durchbildung er und seine Geschwister theilten. Scipio Aemi-
lianus war zugleich sein Vetter und seiner Schwester Gemahl;
unter ihm hatte Tiberius als Achtzehnjähriger die Erstürmung Kar-
thagos mitgemacht und durch seine Tapferkeit das Lob des stren-
gen Feldherrn und kriegerische Auszeichnungen erworben. Daſs
der tüchtige junge Mann die Anschauungen über den Verfall des
Staats an Haupt und Gliedern, wie sie in diesem Kreise gangbar
waren, die Gedanken an mögliche Reformen namentlich zur He-
bung des italischen Bauernstandes mit aller Lebendigkeit und
allem Rigorismus der Jugend in sich aufnahm und steigerte, ist
begreiflich; waren es doch nicht bloſs die jungen Leute, denen das
Zurückweichen des Laelius vor der Durchführung seiner Reform-
ideen nicht verständig erschien, sondern schwach. Appius Clau-
dius, der gewesene Consul (611) und Censor (618), einer der
angesehensten Männer des Senats, tadelte mit all der gewaltsa-
men Leidenschaftlichkeit, die in dem Geschlecht der Claudier
erblich war und blieb, daſs man den Plan der Domänenaufthei-
lung so rasch wieder habe fallen lassen; um so bitterer, wie es
scheint, weil er mit Scipio Aemilianus bei der Bewerbung um die
Censur in persönliche Conflicte gekommen war. Ebenso sprach
Publius Crassus Mucianus (S. 52) sich aus, der als Mensch und
Rechtsgelehrter im Senat wie in der Bürgerschaft hoch geachtet

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0089" n="79"/><fw place="top" type="header">DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.</fw><lb/>
tenloser Jüngling zum Retter Italiens sich aufzuwerfen. Er hie&#x017F;s<lb/>
Tiberius Sempronius Gracchus (591-621). Sein Vater war<lb/>
der gleichnamige streng conservative Mann (Consul 577. 591;<lb/>
Censor 585), dessen Andenken die Spanier, mit denen er gekriegt<lb/>
(I, 499) wie die Bürger, deren Rechte er beschränkt hatte (I,<lb/>
603), seines ernsten und gerechten Sinnes wegen noch lange<lb/>
nach seinem Tode mit Liebe und Ehrfurcht bewahrten. Seine<lb/>
Mutter Cornelia war die Tochter des Siegers von Zama, welcher<lb/>
den ihm persönlich verfeindeten Gracchus wegen seines edel-<lb/>
müthigen Dazwischentretens in dem leidigen Proze&#x017F;s seines<lb/>
Bruders (I, 570) sich zum Schwiegersohn erkoren hatte; sie<lb/>
selbst war eine hochgebildete und bedeutende Frau, die nach<lb/>
dem Tode ihres viel älteren Gemahls die Hand des Königs von<lb/>
Aegypten zurück gewiesen hatte und im Andenken an den Ge-<lb/>
mahl und den Vater die drei ihr gebliebenen Kinder erzog. Der<lb/>
ältere von den beiden Söhnen Tiberius war eine gute und sitt-<lb/>
liche Natur, sanften Blicks und ruhigen Wesens, wie es schien<lb/>
eher bestimmt zu allem andern als zum Agitator der Massen.<lb/>
Mit allen seinen Beziehungen und Anschauungen gehörte er dem<lb/>
scipionischen Kreise an, dessen feine griechische und nationale<lb/>
Durchbildung er und seine Geschwister theilten. Scipio Aemi-<lb/>
lianus war zugleich sein Vetter und seiner Schwester Gemahl;<lb/>
unter ihm hatte Tiberius als Achtzehnjähriger die Erstürmung Kar-<lb/>
thagos mitgemacht und durch seine Tapferkeit das Lob des stren-<lb/>
gen Feldherrn und kriegerische Auszeichnungen erworben. Da&#x017F;s<lb/>
der tüchtige junge Mann die Anschauungen über den Verfall des<lb/>
Staats an Haupt und Gliedern, wie sie in diesem Kreise gangbar<lb/>
waren, die Gedanken an mögliche Reformen namentlich zur He-<lb/>
bung des italischen Bauernstandes mit aller Lebendigkeit und<lb/>
allem Rigorismus der Jugend in sich aufnahm und steigerte, ist<lb/>
begreiflich; waren es doch nicht blo&#x017F;s die jungen Leute, denen das<lb/>
Zurückweichen des Laelius vor der Durchführung seiner Reform-<lb/>
ideen nicht verständig erschien, sondern schwach. Appius Clau-<lb/>
dius, der gewesene Consul (611) und Censor (618), einer der<lb/>
angesehensten Männer des Senats, tadelte mit all der gewaltsa-<lb/>
men Leidenschaftlichkeit, die in dem Geschlecht der Claudier<lb/>
erblich war und blieb, da&#x017F;s man den Plan der Domänenaufthei-<lb/>
lung so rasch wieder habe fallen lassen; um so bitterer, wie es<lb/>
scheint, weil er mit Scipio Aemilianus bei der Bewerbung um die<lb/>
Censur in persönliche Conflicte gekommen war. Ebenso sprach<lb/>
Publius Crassus Mucianus (S. 52) sich aus, der als Mensch und<lb/>
Rechtsgelehrter im Senat wie in der Bürgerschaft hoch geachtet<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0089] DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS. tenloser Jüngling zum Retter Italiens sich aufzuwerfen. Er hieſs Tiberius Sempronius Gracchus (591-621). Sein Vater war der gleichnamige streng conservative Mann (Consul 577. 591; Censor 585), dessen Andenken die Spanier, mit denen er gekriegt (I, 499) wie die Bürger, deren Rechte er beschränkt hatte (I, 603), seines ernsten und gerechten Sinnes wegen noch lange nach seinem Tode mit Liebe und Ehrfurcht bewahrten. Seine Mutter Cornelia war die Tochter des Siegers von Zama, welcher den ihm persönlich verfeindeten Gracchus wegen seines edel- müthigen Dazwischentretens in dem leidigen Prozeſs seines Bruders (I, 570) sich zum Schwiegersohn erkoren hatte; sie selbst war eine hochgebildete und bedeutende Frau, die nach dem Tode ihres viel älteren Gemahls die Hand des Königs von Aegypten zurück gewiesen hatte und im Andenken an den Ge- mahl und den Vater die drei ihr gebliebenen Kinder erzog. Der ältere von den beiden Söhnen Tiberius war eine gute und sitt- liche Natur, sanften Blicks und ruhigen Wesens, wie es schien eher bestimmt zu allem andern als zum Agitator der Massen. Mit allen seinen Beziehungen und Anschauungen gehörte er dem scipionischen Kreise an, dessen feine griechische und nationale Durchbildung er und seine Geschwister theilten. Scipio Aemi- lianus war zugleich sein Vetter und seiner Schwester Gemahl; unter ihm hatte Tiberius als Achtzehnjähriger die Erstürmung Kar- thagos mitgemacht und durch seine Tapferkeit das Lob des stren- gen Feldherrn und kriegerische Auszeichnungen erworben. Daſs der tüchtige junge Mann die Anschauungen über den Verfall des Staats an Haupt und Gliedern, wie sie in diesem Kreise gangbar waren, die Gedanken an mögliche Reformen namentlich zur He- bung des italischen Bauernstandes mit aller Lebendigkeit und allem Rigorismus der Jugend in sich aufnahm und steigerte, ist begreiflich; waren es doch nicht bloſs die jungen Leute, denen das Zurückweichen des Laelius vor der Durchführung seiner Reform- ideen nicht verständig erschien, sondern schwach. Appius Clau- dius, der gewesene Consul (611) und Censor (618), einer der angesehensten Männer des Senats, tadelte mit all der gewaltsa- men Leidenschaftlichkeit, die in dem Geschlecht der Claudier erblich war und blieb, daſs man den Plan der Domänenaufthei- lung so rasch wieder habe fallen lassen; um so bitterer, wie es scheint, weil er mit Scipio Aemilianus bei der Bewerbung um die Censur in persönliche Conflicte gekommen war. Ebenso sprach Publius Crassus Mucianus (S. 52) sich aus, der als Mensch und Rechtsgelehrter im Senat wie in der Bürgerschaft hoch geachtet

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/89
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/89>, abgerufen am 21.11.2024.