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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
tribunicische Intercession durch die inconstitutionelle und mit
unwürdiger Sophistik gerechtfertigte Absetzung seines Collegen
nicht bloss für jetzt, sondern für alle Folgezeit zerstörte. Indess
nicht hierin liegt die sittliche und politische Verkehrtheit von
Gracchus Thun. Für die Geschichte giebt es keine Hochver-
rathsparagraphen; wer eine Macht im Staat zum Kampf aufruft
gegen die andere, der ist gewiss ein Revolutionär, aber vielleicht
zugleich ein einsichtiger und preiswürdiger Staatsmann. Der
wesentliche Fehler der gracchischen Revolution liegt in einer
nur zu oft übersehenen Thatsache: in der Beschaffenheit der da-
maligen Bürgerschaftsversammlungen. Das Ackergesetz des Spu-
rius Cassius (I. 180) und das des Tiberius Gracchus hatten in
der Hauptsache denselben Inhalt und denselben Zweck; dennoch
war das Beginnen beider Männer nicht weniger verschieden als
die ehemalige römische Bürgerschaft, welche mit den Latinern
und Hernikern die Volskerbeute theilte, und die jetzige, die die
Provinzen Asia und Africa einrichten liess. Jene war eine städ-
tische Gemeinde, die zusammentreten und zusammenhandeln
konnte; diese ein grosser Staat, dessen Angehörige in einer und
derselben Urversammlung zu vereinigen und diese Versammlung
entscheiden zu lassen ein ebenso klägliches wie lächerliches Re-
sultat gab. Es rächte sich hier der Grundfehler der Politie des
Alterthums, dass sie nie vollständig von der städtischen zur staat-
lichen Verfassung oder, was dasselbe ist, von dem System der
Urversammlungen zum parlamentarischen fortgegangen ist. Die
souveräne Versammlung Roms war was die souveräne Versamm-
lung in England sein würde, wenn statt der Abgeordneten die
sämmtlichen Wähler Englands zum Parlament zusammentreten
wollten: eine ungeschlachte von allen Interessen und allen Lei-
denschaften wüst bewegte Masse, in der die Intelligenz spurlos
verschwand; eine Masse, die weder die Verhältnisse zu übersehen
noch auch nur einen eigenen Entschluss zu fassen vermochte;
eine Masse vor allem, in welcher von seltenen Ausnahmsfällen
abgesehen unter dem Namen der Bürgerschaft ein paar hundert
oder tausend von den Gassen der Hauptstadt zufällig aufgegrif-
fene Individuen handelten und stimmten. Die Bürgerschaft fand
sich in den Bezirken wie in den Hundertschaften durch ihre
factischen Repräsentanten in der Regel ungefähr ebenso genü-
gend vertreten wie in den Curien durch die daselbst von Rechts-
wegen sie repräsentirenden dreissig Gerichtsdiener und eben wie
der sogenannte Curienbeschluss nichts war als ein Beschluss des-
jenigen Beamten, der die Gerichtsdiener zusammenrief, so war

DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS.
tribunicische Intercession durch die inconstitutionelle und mit
unwürdiger Sophistik gerechtfertigte Absetzung seines Collegen
nicht bloſs für jetzt, sondern für alle Folgezeit zerstörte. Indeſs
nicht hierin liegt die sittliche und politische Verkehrtheit von
Gracchus Thun. Für die Geschichte giebt es keine Hochver-
rathsparagraphen; wer eine Macht im Staat zum Kampf aufruft
gegen die andere, der ist gewiſs ein Revolutionär, aber vielleicht
zugleich ein einsichtiger und preiswürdiger Staatsmann. Der
wesentliche Fehler der gracchischen Revolution liegt in einer
nur zu oft übersehenen Thatsache: in der Beschaffenheit der da-
maligen Bürgerschaftsversammlungen. Das Ackergesetz des Spu-
rius Cassius (I. 180) und das des Tiberius Gracchus hatten in
der Hauptsache denselben Inhalt und denselben Zweck; dennoch
war das Beginnen beider Männer nicht weniger verschieden als
die ehemalige römische Bürgerschaft, welche mit den Latinern
und Hernikern die Volskerbeute theilte, und die jetzige, die die
Provinzen Asia und Africa einrichten lieſs. Jene war eine städ-
tische Gemeinde, die zusammentreten und zusammenhandeln
konnte; diese ein groſser Staat, dessen Angehörige in einer und
derselben Urversammlung zu vereinigen und diese Versammlung
entscheiden zu lassen ein ebenso klägliches wie lächerliches Re-
sultat gab. Es rächte sich hier der Grundfehler der Politie des
Alterthums, daſs sie nie vollständig von der städtischen zur staat-
lichen Verfassung oder, was dasselbe ist, von dem System der
Urversammlungen zum parlamentarischen fortgegangen ist. Die
souveräne Versammlung Roms war was die souveräne Versamm-
lung in England sein würde, wenn statt der Abgeordneten die
sämmtlichen Wähler Englands zum Parlament zusammentreten
wollten: eine ungeschlachte von allen Interessen und allen Lei-
denschaften wüst bewegte Masse, in der die Intelligenz spurlos
verschwand; eine Masse, die weder die Verhältnisse zu übersehen
noch auch nur einen eigenen Entschluſs zu fassen vermochte;
eine Masse vor allem, in welcher von seltenen Ausnahmsfällen
abgesehen unter dem Namen der Bürgerschaft ein paar hundert
oder tausend von den Gassen der Hauptstadt zufällig aufgegrif-
fene Individuen handelten und stimmten. Die Bürgerschaft fand
sich in den Bezirken wie in den Hundertschaften durch ihre
factischen Repräsentanten in der Regel ungefähr ebenso genü-
gend vertreten wie in den Curien durch die daselbst von Rechts-
wegen sie repräsentirenden dreiſsig Gerichtsdiener und eben wie
der sogenannte Curienbeschluſs nichts war als ein Beschluſs des-
jenigen Beamten, der die Gerichtsdiener zusammenrief, so war

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[87/0097] DIE REFORMBEWEGUNG UND TIBERIUS GRACCHUS. tribunicische Intercession durch die inconstitutionelle und mit unwürdiger Sophistik gerechtfertigte Absetzung seines Collegen nicht bloſs für jetzt, sondern für alle Folgezeit zerstörte. Indeſs nicht hierin liegt die sittliche und politische Verkehrtheit von Gracchus Thun. Für die Geschichte giebt es keine Hochver- rathsparagraphen; wer eine Macht im Staat zum Kampf aufruft gegen die andere, der ist gewiſs ein Revolutionär, aber vielleicht zugleich ein einsichtiger und preiswürdiger Staatsmann. Der wesentliche Fehler der gracchischen Revolution liegt in einer nur zu oft übersehenen Thatsache: in der Beschaffenheit der da- maligen Bürgerschaftsversammlungen. Das Ackergesetz des Spu- rius Cassius (I. 180) und das des Tiberius Gracchus hatten in der Hauptsache denselben Inhalt und denselben Zweck; dennoch war das Beginnen beider Männer nicht weniger verschieden als die ehemalige römische Bürgerschaft, welche mit den Latinern und Hernikern die Volskerbeute theilte, und die jetzige, die die Provinzen Asia und Africa einrichten lieſs. Jene war eine städ- tische Gemeinde, die zusammentreten und zusammenhandeln konnte; diese ein groſser Staat, dessen Angehörige in einer und derselben Urversammlung zu vereinigen und diese Versammlung entscheiden zu lassen ein ebenso klägliches wie lächerliches Re- sultat gab. Es rächte sich hier der Grundfehler der Politie des Alterthums, daſs sie nie vollständig von der städtischen zur staat- lichen Verfassung oder, was dasselbe ist, von dem System der Urversammlungen zum parlamentarischen fortgegangen ist. Die souveräne Versammlung Roms war was die souveräne Versamm- lung in England sein würde, wenn statt der Abgeordneten die sämmtlichen Wähler Englands zum Parlament zusammentreten wollten: eine ungeschlachte von allen Interessen und allen Lei- denschaften wüst bewegte Masse, in der die Intelligenz spurlos verschwand; eine Masse, die weder die Verhältnisse zu übersehen noch auch nur einen eigenen Entschluſs zu fassen vermochte; eine Masse vor allem, in welcher von seltenen Ausnahmsfällen abgesehen unter dem Namen der Bürgerschaft ein paar hundert oder tausend von den Gassen der Hauptstadt zufällig aufgegrif- fene Individuen handelten und stimmten. Die Bürgerschaft fand sich in den Bezirken wie in den Hundertschaften durch ihre factischen Repräsentanten in der Regel ungefähr ebenso genü- gend vertreten wie in den Curien durch die daselbst von Rechts- wegen sie repräsentirenden dreiſsig Gerichtsdiener und eben wie der sogenannte Curienbeschluſs nichts war als ein Beschluſs des- jenigen Beamten, der die Gerichtsdiener zusammenrief, so war

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/97>, abgerufen am 21.11.2024.