das heutige französische Theater. Wie den losen Tableaus der Tagesstücke der römische Mimus entspricht, für den wie für jene nichts zu gut und nichts zu schlecht war, so findet auch in bei- den sich dasselbe traditionell klassische Trauerspiel und Lustspiel, die zu bewundern oder mindestens zu beklatschen der gebildete Mann von Rechtswegen verpflichtet ist. Der Menge wird Genüge gethan, indem sie in der Posse sich selber wiederfindet und in dem Schauspiel den decorativen Pomp anstaunt und den allge- meinen Eindruck einer idealen Welt empfängt; der höher Gebil- dete kümmert im Theater sich nicht um das Stück, sondern ein- zig um die künstlerische Darstellung. Endlich die römische Schau- spielkunst selbst pendelte in ihren verschiedenen Sphären ähnlich wie die französische zwischen der Chaumiere und dem Salon. Es war nichts Ungewöhnliches, dass die römischen Tänzerinnen bei dem Finale das Obergewand abwarfen und dem Publicum einen Tanz im Hemde zum Besten gaben; anderseits aber galt auch dem römischen Talma als das höchste Gesetz seiner Kunst nicht die Naturwahrheit, sondern das Ebenmass.
In der recitativen Poesie scheint es an metrischen Chroni- ken nach dem Muster der ennianischen nicht gefehlt zu haben; aber sie dürften ausreichend kritisirt sein durch jenes artige Mädchengelübde, von dem Catullus singt: für die glückliche Heimkehr des geliebten Entfernten das schlechteste der schlech- ten Heldengedichte den Göttern zum Brandopfer darzubringen. In der That ist in dem ganzen Gebiet der recitativen Dichtung in dieser Epoche die ältere nationalrömische Tendenz nur durch ein einziges namhaftes Werk vertreten, das aber auch zu den bedeu- tendsten dichterischen Erzeugnissen der römischen Litteratur überhaupt gehört. Es ist das Lehrgedicht des Titus Lucretius Carus (655--699), ,vom Wesen der Dinge', dessen Verfasser, den besten Kreisen der römischen Gesellschaft angehörig, aber, sei es durch Kränklichkeit, sei es durch Abneigung vom öffentli- chen Leben ferngehalten, kurz vor dem Ausbruch des Bürger- krieges im besten Mannesalter starb. Als Dichter knüpft er ener- gisch an Ennius an und damit an die klassische griechische Litte- ratur. Unwillig wendet er sich weg von dem ,hohlen Hellenismus' seiner Zeit und bekennt sich mit ganzer Seele und vollem Herzen als den Schüler der ,strengen Griechen', wie denn selbst des Thukydides heiliger Ernst in einem der bekanntesten Abschnitte dieser römischen Dichtung keinen unwürdigen Wiederhall gefun- den hat. Wie Ennius bei Epicharmos und Euhemeros seine Weisheit schöpft, so entlehnt Lucretius die Form seiner Darstel-
FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
das heutige französische Theater. Wie den losen Tableaus der Tagesstücke der römische Mimus entspricht, für den wie für jene nichts zu gut und nichts zu schlecht war, so findet auch in bei- den sich dasselbe traditionell klassische Trauerspiel und Lustspiel, die zu bewundern oder mindestens zu beklatschen der gebildete Mann von Rechtswegen verpflichtet ist. Der Menge wird Genüge gethan, indem sie in der Posse sich selber wiederfindet und in dem Schauspiel den decorativen Pomp anstaunt und den allge- meinen Eindruck einer idealen Welt empfängt; der höher Gebil- dete kümmert im Theater sich nicht um das Stück, sondern ein- zig um die künstlerische Darstellung. Endlich die römische Schau- spielkunst selbst pendelte in ihren verschiedenen Sphären ähnlich wie die französische zwischen der Chaumière und dem Salon. Es war nichts Ungewöhnliches, daſs die römischen Tänzerinnen bei dem Finale das Obergewand abwarfen und dem Publicum einen Tanz im Hemde zum Besten gaben; anderseits aber galt auch dem römischen Talma als das höchste Gesetz seiner Kunst nicht die Naturwahrheit, sondern das Ebenmaſs.
In der recitativen Poesie scheint es an metrischen Chroni- ken nach dem Muster der ennianischen nicht gefehlt zu haben; aber sie dürften ausreichend kritisirt sein durch jenes artige Mädchengelübde, von dem Catullus singt: für die glückliche Heimkehr des geliebten Entfernten das schlechteste der schlech- ten Heldengedichte den Göttern zum Brandopfer darzubringen. In der That ist in dem ganzen Gebiet der recitativen Dichtung in dieser Epoche die ältere nationalrömische Tendenz nur durch ein einziges namhaftes Werk vertreten, das aber auch zu den bedeu- tendsten dichterischen Erzeugnissen der römischen Litteratur überhaupt gehört. Es ist das Lehrgedicht des Titus Lucretius Carus (655—699), ‚vom Wesen der Dinge‘, dessen Verfasser, den besten Kreisen der römischen Gesellschaft angehörig, aber, sei es durch Kränklichkeit, sei es durch Abneigung vom öffentli- chen Leben ferngehalten, kurz vor dem Ausbruch des Bürger- krieges im besten Mannesalter starb. Als Dichter knüpft er ener- gisch an Ennius an und damit an die klassische griechische Litte- ratur. Unwillig wendet er sich weg von dem ‚hohlen Hellenismus‘ seiner Zeit und bekennt sich mit ganzer Seele und vollem Herzen als den Schüler der ‚strengen Griechen‘, wie denn selbst des Thukydides heiliger Ernst in einem der bekanntesten Abschnitte dieser römischen Dichtung keinen unwürdigen Wiederhall gefun- den hat. Wie Ennius bei Epicharmos und Euhemeros seine Weisheit schöpft, so entlehnt Lucretius die Form seiner Darstel-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0558"n="548"/><fwplace="top"type="header">FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.</fw><lb/>
das heutige französische Theater. Wie den losen Tableaus der<lb/>
Tagesstücke der römische Mimus entspricht, für den wie für jene<lb/>
nichts zu gut und nichts zu schlecht war, so findet auch in bei-<lb/>
den sich dasselbe traditionell klassische Trauerspiel und Lustspiel,<lb/>
die zu bewundern oder mindestens zu beklatschen der gebildete<lb/>
Mann von Rechtswegen verpflichtet ist. Der Menge wird Genüge<lb/>
gethan, indem sie in der Posse sich selber wiederfindet und in<lb/>
dem Schauspiel den decorativen Pomp anstaunt und den allge-<lb/>
meinen Eindruck einer idealen Welt empfängt; der höher Gebil-<lb/>
dete kümmert im Theater sich nicht um das Stück, sondern ein-<lb/>
zig um die künstlerische Darstellung. Endlich die römische Schau-<lb/>
spielkunst selbst pendelte in ihren verschiedenen Sphären ähnlich<lb/>
wie die französische zwischen der Chaumière und dem Salon. Es<lb/>
war nichts Ungewöhnliches, daſs die römischen Tänzerinnen bei<lb/>
dem Finale das Obergewand abwarfen und dem Publicum einen<lb/>
Tanz im Hemde zum Besten gaben; anderseits aber galt auch<lb/>
dem römischen Talma als das höchste Gesetz seiner Kunst nicht<lb/>
die Naturwahrheit, sondern das Ebenmaſs.</p><lb/><p>In der recitativen Poesie scheint es an metrischen Chroni-<lb/>
ken nach dem Muster der ennianischen nicht gefehlt zu haben;<lb/>
aber sie dürften ausreichend kritisirt sein durch jenes artige<lb/>
Mädchengelübde, von dem Catullus singt: für die glückliche<lb/>
Heimkehr des geliebten Entfernten das schlechteste der schlech-<lb/>
ten Heldengedichte den Göttern zum Brandopfer darzubringen.<lb/>
In der That ist in dem ganzen Gebiet der recitativen Dichtung in<lb/>
dieser Epoche die ältere nationalrömische Tendenz nur durch ein<lb/>
einziges namhaftes Werk vertreten, das aber auch zu den bedeu-<lb/>
tendsten dichterischen Erzeugnissen der römischen Litteratur<lb/>
überhaupt gehört. Es ist das Lehrgedicht des Titus Lucretius<lb/>
Carus (655—699), ‚vom Wesen der Dinge‘, dessen Verfasser,<lb/>
den besten Kreisen der römischen Gesellschaft angehörig, aber,<lb/>
sei es durch Kränklichkeit, sei es durch Abneigung vom öffentli-<lb/>
chen Leben ferngehalten, kurz vor dem Ausbruch des Bürger-<lb/>
krieges im besten Mannesalter starb. Als Dichter knüpft er ener-<lb/>
gisch an Ennius an und damit an die klassische griechische Litte-<lb/>
ratur. Unwillig wendet er sich weg von dem ‚hohlen Hellenismus‘<lb/>
seiner Zeit und bekennt sich mit ganzer Seele und vollem Herzen<lb/>
als den Schüler der ‚strengen Griechen‘, wie denn selbst des<lb/>
Thukydides heiliger Ernst in einem der bekanntesten Abschnitte<lb/>
dieser römischen Dichtung keinen unwürdigen Wiederhall gefun-<lb/>
den hat. Wie Ennius bei Epicharmos und Euhemeros seine<lb/>
Weisheit schöpft, so entlehnt Lucretius die Form seiner Darstel-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[548/0558]
FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
das heutige französische Theater. Wie den losen Tableaus der
Tagesstücke der römische Mimus entspricht, für den wie für jene
nichts zu gut und nichts zu schlecht war, so findet auch in bei-
den sich dasselbe traditionell klassische Trauerspiel und Lustspiel,
die zu bewundern oder mindestens zu beklatschen der gebildete
Mann von Rechtswegen verpflichtet ist. Der Menge wird Genüge
gethan, indem sie in der Posse sich selber wiederfindet und in
dem Schauspiel den decorativen Pomp anstaunt und den allge-
meinen Eindruck einer idealen Welt empfängt; der höher Gebil-
dete kümmert im Theater sich nicht um das Stück, sondern ein-
zig um die künstlerische Darstellung. Endlich die römische Schau-
spielkunst selbst pendelte in ihren verschiedenen Sphären ähnlich
wie die französische zwischen der Chaumière und dem Salon. Es
war nichts Ungewöhnliches, daſs die römischen Tänzerinnen bei
dem Finale das Obergewand abwarfen und dem Publicum einen
Tanz im Hemde zum Besten gaben; anderseits aber galt auch
dem römischen Talma als das höchste Gesetz seiner Kunst nicht
die Naturwahrheit, sondern das Ebenmaſs.
In der recitativen Poesie scheint es an metrischen Chroni-
ken nach dem Muster der ennianischen nicht gefehlt zu haben;
aber sie dürften ausreichend kritisirt sein durch jenes artige
Mädchengelübde, von dem Catullus singt: für die glückliche
Heimkehr des geliebten Entfernten das schlechteste der schlech-
ten Heldengedichte den Göttern zum Brandopfer darzubringen.
In der That ist in dem ganzen Gebiet der recitativen Dichtung in
dieser Epoche die ältere nationalrömische Tendenz nur durch ein
einziges namhaftes Werk vertreten, das aber auch zu den bedeu-
tendsten dichterischen Erzeugnissen der römischen Litteratur
überhaupt gehört. Es ist das Lehrgedicht des Titus Lucretius
Carus (655—699), ‚vom Wesen der Dinge‘, dessen Verfasser,
den besten Kreisen der römischen Gesellschaft angehörig, aber,
sei es durch Kränklichkeit, sei es durch Abneigung vom öffentli-
chen Leben ferngehalten, kurz vor dem Ausbruch des Bürger-
krieges im besten Mannesalter starb. Als Dichter knüpft er ener-
gisch an Ennius an und damit an die klassische griechische Litte-
ratur. Unwillig wendet er sich weg von dem ‚hohlen Hellenismus‘
seiner Zeit und bekennt sich mit ganzer Seele und vollem Herzen
als den Schüler der ‚strengen Griechen‘, wie denn selbst des
Thukydides heiliger Ernst in einem der bekanntesten Abschnitte
dieser römischen Dichtung keinen unwürdigen Wiederhall gefun-
den hat. Wie Ennius bei Epicharmos und Euhemeros seine
Weisheit schöpft, so entlehnt Lucretius die Form seiner Darstel-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/558>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.