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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
mern der unphilosophischste war.* Allein Varro war kein unfreier
Schüler. Die Anregung und im Allgemeinen die Form entlehnte
er von Herakleides und Menippos; aber er war eine zu individuelle
und zu entschieden römische Natur, um nicht seine Nachschöpfun-
gen wesentlich selbstständig zu halten und ihnen den nationalrö-
mischen Stempel aufzudrücken. Für seine ernsten Abhandlungen,
in denen ein moralischer Satz oder sonst ein Gegenstand von all-
gemeinem Interesse behandelt ward, verschmähte er die fabulirende
an die milesischen Mährchen streifende Weise des Herakleides, der
sich gefiel in einigermassen kinderhaften Geschichtchen wie die vom
Abaris und von dem nach siebentägigem Tode wieder zum Leben
erwachenden Mädchen. Nur selten entnahm er die Einkleidung den
edleren Mythen der Griechen, wie in dem Aufsatz, ,Orestes oder
vom Wahnsinn'; regelmässig gab ihm einen würdigeren Rahmen
für seine Stoffe die Geschichte, namentlich die vaterländische
seiner Zeit, wodurch diese Aufsätze zugleich, wie sie auch heissen,
,Lobschriften' wurden auf geachtete Römer, vor allem auf die
Koryphäen der Verfassungspartei. So war die Abhandlung, ,vom
Frieden' zugleich eine Denkschrift auf Metellus Pius, den letzten
in der glänzenden Reihe der glücklichen Feldherren des Senats;
die ,von der Götterverehrung' zugleich bestimmt das Andenken
an den hochgeachteten Optimaten und Pontifex Gaius Curio zu
bewahren; der Aufsatz ,über das Schicksal' knüpfte an Marius
an, der ,über die Geschichtschreibung' an den ersten Histo-
riker dieser Epoche Sisenna, der ,über die Anfänge der römi-
schen Schaubühne' an den fürstlichen Spielgeber Scaurus, der
,über die Zahlen' an den fein gebildeten römischen Banquier At-
ticus. Die beiden philosophisch-historischen Aufsätze ,Laelius
oder von der Freundschaft', ,Cato oder vom Alter', welche Ci-
cero, wahrscheinlich nach dem Muster der varronischen, schrieb,
mögen von Varros halb lehrender, halb erzählender Behandlung
dieser Stoffe ungefähr eine Vorstellung geben. -- Ebenso origi-
nell in Form und Inhalt ward von Varro die menippische Satire
behandelt; die dreiste Mischung von Prosa und Versen ist dem

* Etwas Kindischeres giebt es kaum als Varros Schema der sämmt-
lichen Philosophien, das erstlich alle nicht die Beglückung des Menschen
als letztes Ziel aufstellende Systeme kurzweg für nicht vorhanden erklärt
und dann die Zahl der denkbaren Philosophien auf zweihundertachtundacht-
zig berechnet. Der tüchtige Mann war leider zu sehr Gelehrter um ein-
zugestehen, dass er Philosoph weder sein könne noch sein möge, und hat
desshalb als solcher Zeit seines Lebens zwischen Stoa, Pythagoreismus und
Diogenismus einen nicht schönen Eiertanz aufgeführt.

FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
mern der unphilosophischste war.* Allein Varro war kein unfreier
Schüler. Die Anregung und im Allgemeinen die Form entlehnte
er von Herakleides und Menippos; aber er war eine zu individuelle
und zu entschieden römische Natur, um nicht seine Nachschöpfun-
gen wesentlich selbstständig zu halten und ihnen den nationalrö-
mischen Stempel aufzudrücken. Für seine ernsten Abhandlungen,
in denen ein moralischer Satz oder sonst ein Gegenstand von all-
gemeinem Interesse behandelt ward, verschmähte er die fabulirende
an die milesischen Mährchen streifende Weise des Herakleides, der
sich gefiel in einigermaſsen kinderhaften Geschichtchen wie die vom
Abaris und von dem nach siebentägigem Tode wieder zum Leben
erwachenden Mädchen. Nur selten entnahm er die Einkleidung den
edleren Mythen der Griechen, wie in dem Aufsatz, ‚Orestes oder
vom Wahnsinn‘; regelmäſsig gab ihm einen würdigeren Rahmen
für seine Stoffe die Geschichte, namentlich die vaterländische
seiner Zeit, wodurch diese Aufsätze zugleich, wie sie auch heiſsen,
‚Lobschriften‘ wurden auf geachtete Römer, vor allem auf die
Koryphäen der Verfassungspartei. So war die Abhandlung, ‚vom
Frieden‘ zugleich eine Denkschrift auf Metellus Pius, den letzten
in der glänzenden Reihe der glücklichen Feldherren des Senats;
die ‚von der Götterverehrung‘ zugleich bestimmt das Andenken
an den hochgeachteten Optimaten und Pontifex Gaius Curio zu
bewahren; der Aufsatz ‚über das Schicksal‘ knüpfte an Marius
an, der ‚über die Geschichtschreibung‘ an den ersten Histo-
riker dieser Epoche Sisenna, der ‚über die Anfänge der römi-
schen Schaubühne‘ an den fürstlichen Spielgeber Scaurus, der
‚über die Zahlen‘ an den fein gebildeten römischen Banquier At-
ticus. Die beiden philosophisch-historischen Aufsätze ‚Laelius
oder von der Freundschaft‘, ‚Cato oder vom Alter‘, welche Ci-
cero, wahrscheinlich nach dem Muster der varronischen, schrieb,
mögen von Varros halb lehrender, halb erzählender Behandlung
dieser Stoffe ungefähr eine Vorstellung geben. — Ebenso origi-
nell in Form und Inhalt ward von Varro die menippische Satire
behandelt; die dreiste Mischung von Prosa und Versen ist dem

* Etwas Kindischeres giebt es kaum als Varros Schema der sämmt-
lichen Philosophien, das erstlich alle nicht die Beglückung des Menschen
als letztes Ziel aufstellende Systeme kurzweg für nicht vorhanden erklärt
und dann die Zahl der denkbaren Philosophien auf zweihundertachtundacht-
zig berechnet. Der tüchtige Mann war leider zu sehr Gelehrter um ein-
zugestehen, daſs er Philosoph weder sein könne noch sein möge, und hat
deſshalb als solcher Zeit seines Lebens zwischen Stoa, Pythagoreismus und
Diogenismus einen nicht schönen Eiertanz aufgeführt.
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[558/0568] FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII. mern der unphilosophischste war. * Allein Varro war kein unfreier Schüler. Die Anregung und im Allgemeinen die Form entlehnte er von Herakleides und Menippos; aber er war eine zu individuelle und zu entschieden römische Natur, um nicht seine Nachschöpfun- gen wesentlich selbstständig zu halten und ihnen den nationalrö- mischen Stempel aufzudrücken. Für seine ernsten Abhandlungen, in denen ein moralischer Satz oder sonst ein Gegenstand von all- gemeinem Interesse behandelt ward, verschmähte er die fabulirende an die milesischen Mährchen streifende Weise des Herakleides, der sich gefiel in einigermaſsen kinderhaften Geschichtchen wie die vom Abaris und von dem nach siebentägigem Tode wieder zum Leben erwachenden Mädchen. Nur selten entnahm er die Einkleidung den edleren Mythen der Griechen, wie in dem Aufsatz, ‚Orestes oder vom Wahnsinn‘; regelmäſsig gab ihm einen würdigeren Rahmen für seine Stoffe die Geschichte, namentlich die vaterländische seiner Zeit, wodurch diese Aufsätze zugleich, wie sie auch heiſsen, ‚Lobschriften‘ wurden auf geachtete Römer, vor allem auf die Koryphäen der Verfassungspartei. So war die Abhandlung, ‚vom Frieden‘ zugleich eine Denkschrift auf Metellus Pius, den letzten in der glänzenden Reihe der glücklichen Feldherren des Senats; die ‚von der Götterverehrung‘ zugleich bestimmt das Andenken an den hochgeachteten Optimaten und Pontifex Gaius Curio zu bewahren; der Aufsatz ‚über das Schicksal‘ knüpfte an Marius an, der ‚über die Geschichtschreibung‘ an den ersten Histo- riker dieser Epoche Sisenna, der ‚über die Anfänge der römi- schen Schaubühne‘ an den fürstlichen Spielgeber Scaurus, der ‚über die Zahlen‘ an den fein gebildeten römischen Banquier At- ticus. Die beiden philosophisch-historischen Aufsätze ‚Laelius oder von der Freundschaft‘, ‚Cato oder vom Alter‘, welche Ci- cero, wahrscheinlich nach dem Muster der varronischen, schrieb, mögen von Varros halb lehrender, halb erzählender Behandlung dieser Stoffe ungefähr eine Vorstellung geben. — Ebenso origi- nell in Form und Inhalt ward von Varro die menippische Satire behandelt; die dreiste Mischung von Prosa und Versen ist dem * Etwas Kindischeres giebt es kaum als Varros Schema der sämmt- lichen Philosophien, das erstlich alle nicht die Beglückung des Menschen als letztes Ziel aufstellende Systeme kurzweg für nicht vorhanden erklärt und dann die Zahl der denkbaren Philosophien auf zweihundertachtundacht- zig berechnet. Der tüchtige Mann war leider zu sehr Gelehrter um ein- zugestehen, daſs er Philosoph weder sein könne noch sein möge, und hat deſshalb als solcher Zeit seines Lebens zwischen Stoa, Pythagoreismus und Diogenismus einen nicht schönen Eiertanz aufgeführt.

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/568>, abgerufen am 21.11.2024.