Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 1. Berlin, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite


Wesenstrieb darzu ist der Grundtrieb zur höchsten lautern Liebeseinheit und Seligkeit. Da heutiges Tages die allgemeine Menschenliebe über alles gepriesen ist, so sollte man denken, die allgemeine Wesensliebe sollte es noch wohl mehr werden, und das mit höchstem Rechte. Freylich! Aber man sehe dieser allgemeinen Wesensliebe nur erst recht unter die Augen. Jst sie etwan auch die allgemeine Liebe aller vergänglichen Dinge ohne Unterschied? aller irrdischen Herrlichkeiten, Wollüste und Eigenthüme zugleich? O! dann fiele die ganze eitle Welt wie ein Vogelheer auf einmal solcher allgemeinen Wesensliebe zu, das ergäbe sich von sich selbst und brauchte keiner Weisheit, keiner Homilie, keiner Erinnerung, nicht einmal einfältigen Vernunft darzu. Das wäre aller Narren Paradies, der Taumelkreis der Gegenfüßler, des ewigen Lichts aller Wesen. Aber Zufall ist nicht Wesen, die zufälligen Dinge sind nicht wesentlich; ewige Flucht vor allem Wesen und Wesentlichen, mit unersättlich taumelnder Wechselliebe alles Zufälligen ist nicht Wesensliebe. Welch eine Rechnung ohne den Wirth, wenn sich alle umlaufende thörichte Welt die allgemeine Wesensliebe zueignen wollte! Nur in der allgemeinen Erbarmung der Wesensliebhaber kann sie eingeschlossen seyn. Wie einsam, wie einsiedlerisch werden also nicht wiederum die Wesensliebhaber mitten in der blinden Welt der Zerstreuung unter allen Zufälligkeiten seyn! Nichts als Wesen in al-


Wesenstrieb darzu ist der Grundtrieb zur hoͤchsten lautern Liebeseinheit und Seligkeit. Da heutiges Tages die allgemeine Menschenliebe uͤber alles gepriesen ist, so sollte man denken, die allgemeine Wesensliebe sollte es noch wohl mehr werden, und das mit hoͤchstem Rechte. Freylich! Aber man sehe dieser allgemeinen Wesensliebe nur erst recht unter die Augen. Jst sie etwan auch die allgemeine Liebe aller vergaͤnglichen Dinge ohne Unterschied? aller irrdischen Herrlichkeiten, Wolluͤste und Eigenthuͤme zugleich? O! dann fiele die ganze eitle Welt wie ein Vogelheer auf einmal solcher allgemeinen Wesensliebe zu, das ergaͤbe sich von sich selbst und brauchte keiner Weisheit, keiner Homilie, keiner Erinnerung, nicht einmal einfaͤltigen Vernunft darzu. Das waͤre aller Narren Paradies, der Taumelkreis der Gegenfuͤßler, des ewigen Lichts aller Wesen. Aber Zufall ist nicht Wesen, die zufaͤlligen Dinge sind nicht wesentlich; ewige Flucht vor allem Wesen und Wesentlichen, mit unersaͤttlich taumelnder Wechselliebe alles Zufaͤlligen ist nicht Wesensliebe. Welch eine Rechnung ohne den Wirth, wenn sich alle umlaufende thoͤrichte Welt die allgemeine Wesensliebe zueignen wollte! Nur in der allgemeinen Erbarmung der Wesensliebhaber kann sie eingeschlossen seyn. Wie einsam, wie einsiedlerisch werden also nicht wiederum die Wesensliebhaber mitten in der blinden Welt der Zerstreuung unter allen Zufaͤlligkeiten seyn! Nichts als Wesen in al-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0033" n="31"/><lb/>
Wesenstrieb darzu ist der                         Grundtrieb zur ho&#x0364;chsten lautern Liebeseinheit und Seligkeit. Da heutiges                         Tages die allgemeine Menschenliebe u&#x0364;ber alles gepriesen ist, so sollte man                         denken, die allgemeine Wesensliebe sollte es noch wohl mehr werden, und das                         mit ho&#x0364;chstem Rechte. Freylich! Aber man sehe dieser allgemeinen Wesensliebe                         nur erst recht unter die Augen. Jst sie etwan auch die allgemeine Liebe                         aller verga&#x0364;nglichen Dinge ohne Unterschied? aller irrdischen Herrlichkeiten,                         Wollu&#x0364;ste und Eigenthu&#x0364;me zugleich? O! dann fiele die ganze eitle Welt wie ein                         Vogelheer auf einmal solcher allgemeinen Wesensliebe zu, das erga&#x0364;be sich von                         sich selbst und brauchte keiner Weisheit, keiner Homilie, keiner Erinnerung,                         nicht einmal einfa&#x0364;ltigen Vernunft darzu. Das wa&#x0364;re aller Narren Paradies, der                         Taumelkreis der Gegenfu&#x0364;ßler, des ewigen Lichts aller Wesen. Aber Zufall ist                         nicht Wesen, die zufa&#x0364;lligen Dinge sind nicht wesentlich; ewige Flucht vor                         allem Wesen und Wesentlichen, mit unersa&#x0364;ttlich taumelnder Wechselliebe alles                         Zufa&#x0364;lligen ist nicht Wesensliebe. Welch eine Rechnung ohne den Wirth, wenn                         sich alle umlaufende tho&#x0364;richte Welt die allgemeine Wesensliebe zueignen                         wollte! Nur in der allgemeinen Erbarmung der Wesensliebhaber kann sie                         eingeschlossen seyn. Wie einsam, wie einsiedlerisch werden also nicht                         wiederum die Wesensliebhaber mitten in der blinden Welt der Zerstreuung                         unter allen Zufa&#x0364;lligkeiten seyn! Nichts als Wesen in al-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[31/0033] Wesenstrieb darzu ist der Grundtrieb zur hoͤchsten lautern Liebeseinheit und Seligkeit. Da heutiges Tages die allgemeine Menschenliebe uͤber alles gepriesen ist, so sollte man denken, die allgemeine Wesensliebe sollte es noch wohl mehr werden, und das mit hoͤchstem Rechte. Freylich! Aber man sehe dieser allgemeinen Wesensliebe nur erst recht unter die Augen. Jst sie etwan auch die allgemeine Liebe aller vergaͤnglichen Dinge ohne Unterschied? aller irrdischen Herrlichkeiten, Wolluͤste und Eigenthuͤme zugleich? O! dann fiele die ganze eitle Welt wie ein Vogelheer auf einmal solcher allgemeinen Wesensliebe zu, das ergaͤbe sich von sich selbst und brauchte keiner Weisheit, keiner Homilie, keiner Erinnerung, nicht einmal einfaͤltigen Vernunft darzu. Das waͤre aller Narren Paradies, der Taumelkreis der Gegenfuͤßler, des ewigen Lichts aller Wesen. Aber Zufall ist nicht Wesen, die zufaͤlligen Dinge sind nicht wesentlich; ewige Flucht vor allem Wesen und Wesentlichen, mit unersaͤttlich taumelnder Wechselliebe alles Zufaͤlligen ist nicht Wesensliebe. Welch eine Rechnung ohne den Wirth, wenn sich alle umlaufende thoͤrichte Welt die allgemeine Wesensliebe zueignen wollte! Nur in der allgemeinen Erbarmung der Wesensliebhaber kann sie eingeschlossen seyn. Wie einsam, wie einsiedlerisch werden also nicht wiederum die Wesensliebhaber mitten in der blinden Welt der Zerstreuung unter allen Zufaͤlligkeiten seyn! Nichts als Wesen in al-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, University of Glasgow, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01001_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01001_1793/33
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 1. Berlin, 1793, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01001_1793/33>, abgerufen am 23.11.2024.