Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783.8. Willensfreiheit. Jch stand verschiedenemal auf einem hohen Thurme, wo mir das Geländer bis an die Brust ging, und ich also vor dem Herunterstürzen völlig gesichert war: demohngeachtet aber fiel mir plötzlich ein schrecklicher Gedanke ein: wie wenn ich mich nothwendig gedrungen fühlte, oben auf den Rand des Geländers zu steigen, und so herunterzuspringen! Es wurde weiter nichts erfordert, als mein Wille, dieß Vorhaben nicht ins Werk zu richten, und doch erfüllte mich dieser Gedanke mit Schaudern und Entsetzen, es war, als ob ich meiner eignen Willensfreiheit nicht trauete, oder mich vor meinem eignen Willen fürchtete; ich konnte den Zustand keine Minute länger ertragen, und mußte schnell herabsteigen. Eben so ging es mir in jüngern Jahren zuweilen in der Kirche; wo ich mir das Aufsehen und die Unordnung lebhaft vorstellte, die daraus entstehen würde, wenn ich mitten während der Predigt anfinge laut zu reden; auf einmal war es mir so, als würde ich laut reden müssen, ich war darüber in der entsetzlichsten Furcht, und dieser Gedanke quälte mich oft die ganze Predigt über. M. 8. Willensfreiheit. Jch stand verschiedenemal auf einem hohen Thurme, wo mir das Gelaͤnder bis an die Brust ging, und ich also vor dem Herunterstuͤrzen voͤllig gesichert war: demohngeachtet aber fiel mir ploͤtzlich ein schrecklicher Gedanke ein: wie wenn ich mich nothwendig gedrungen fuͤhlte, oben auf den Rand des Gelaͤnders zu steigen, und so herunterzuspringen! Es wurde weiter nichts erfordert, als mein Wille, dieß Vorhaben nicht ins Werk zu richten, und doch erfuͤllte mich dieser Gedanke mit Schaudern und Entsetzen, es war, als ob ich meiner eignen Willensfreiheit nicht trauete, oder mich vor meinem eignen Willen fuͤrchtete; ich konnte den Zustand keine Minute laͤnger ertragen, und mußte schnell herabsteigen. Eben so ging es mir in juͤngern Jahren zuweilen in der Kirche; wo ich mir das Aufsehen und die Unordnung lebhaft vorstellte, die daraus entstehen wuͤrde, wenn ich mitten waͤhrend der Predigt anfinge laut zu reden; auf einmal war es mir so, als wuͤrde ich laut reden muͤssen, ich war daruͤber in der entsetzlichsten Furcht, und dieser Gedanke quaͤlte mich oft die ganze Predigt uͤber. M. <TEI> <text> <body> <div> <div> <div> <pb facs="#f0104" n="100"/><lb/><lb/> </div> </div> <div> <head>8. Willensfreiheit.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref1"><note type="editorial"/>Moritz, Karl Philipp</persName> </bibl> </note> <p>Jch stand verschiedenemal auf einem hohen Thurme, wo mir das Gelaͤnder bis an die Brust ging, und ich also vor dem <choice><corr>Herunterstuͤrzen</corr><sic>Herunterstuͤtzen</sic></choice> voͤllig gesichert war: demohngeachtet aber fiel mir ploͤtzlich ein schrecklicher Gedanke ein: wie wenn ich mich nothwendig gedrungen fuͤhlte, oben auf den Rand des Gelaͤnders zu steigen, und so herunterzuspringen! </p> <p>Es wurde weiter nichts erfordert, als mein Wille, dieß Vorhaben nicht ins Werk zu richten, und doch erfuͤllte mich dieser Gedanke mit Schaudern und Entsetzen, es war, als ob ich meiner eignen Willensfreiheit nicht trauete, oder mich vor meinem eignen Willen fuͤrchtete; ich konnte den Zustand keine Minute laͤnger ertragen, und mußte schnell herabsteigen. </p> <p>Eben so ging es mir in juͤngern Jahren zuweilen in der Kirche; wo ich mir das Aufsehen und die Unordnung lebhaft vorstellte, die daraus entstehen wuͤrde, wenn ich mitten waͤhrend der Predigt anfinge laut zu reden; auf einmal war es mir so, als wuͤrde ich laut reden <hi rendition="#b">muͤssen,</hi> ich war daruͤber in der entsetzlichsten Furcht, und dieser Gedanke quaͤlte mich oft die ganze Predigt uͤber. </p> <p rendition="#right"> <hi rendition="#b"> <persName ref="#ref0001"><note type="editorial">Moritz, Karl Philipp</note>M.</persName> </hi> </p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [100/0104]
8. Willensfreiheit.
Jch stand verschiedenemal auf einem hohen Thurme, wo mir das Gelaͤnder bis an die Brust ging, und ich also vor dem Herunterstuͤrzen voͤllig gesichert war: demohngeachtet aber fiel mir ploͤtzlich ein schrecklicher Gedanke ein: wie wenn ich mich nothwendig gedrungen fuͤhlte, oben auf den Rand des Gelaͤnders zu steigen, und so herunterzuspringen!
Es wurde weiter nichts erfordert, als mein Wille, dieß Vorhaben nicht ins Werk zu richten, und doch erfuͤllte mich dieser Gedanke mit Schaudern und Entsetzen, es war, als ob ich meiner eignen Willensfreiheit nicht trauete, oder mich vor meinem eignen Willen fuͤrchtete; ich konnte den Zustand keine Minute laͤnger ertragen, und mußte schnell herabsteigen.
Eben so ging es mir in juͤngern Jahren zuweilen in der Kirche; wo ich mir das Aufsehen und die Unordnung lebhaft vorstellte, die daraus entstehen wuͤrde, wenn ich mitten waͤhrend der Predigt anfinge laut zu reden; auf einmal war es mir so, als wuͤrde ich laut reden muͤssen, ich war daruͤber in der entsetzlichsten Furcht, und dieser Gedanke quaͤlte mich oft die ganze Predigt uͤber.
M.
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