Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite


dammniß angedroht, wenn er seiner Frau in ihren gottseeligen Uebungen das geringste in den Weg legte.

Wahnsinn also läßt sich bei dieser Person nicht vermuthen, wenn man nicht den aufs höchste gestiegenen Religionsenthusiasmus mit diesem Namen belegen will.

Besonders aber ist bei diesem Vorfall merkwürdig:

1) Daß der 17te des Maymonats ein großer Festtag bei der Brudergemeine ist, und daß die Verstorbene gerade den Tag erwählte, um heimzugehen, und der ewigen Seeligkeit theilhaftig zu werden. Auch bereitete sich

2) Die Verstorbene sehr feyerlich zu ihrem Tode, indem sie sehr oft, doch jedesmal nach einer langen Zwischenpause, mit immerfort gefaltenen Händen ausrief: Jn deine Wunden, mein Heiland -- Ja? --ja!

So dialogirte sie im Nahmen des Heilandes mit sich selbst, der anwesende Bruder, welcher dergleichen feurige Andachten schon an ihr gewohnt war, argwöhnte nichts Bedeutendes in diesen Worten; und sah den Sinn davon erst nach Endigung des Trauerspiels ein.

3) So wahrscheinlich es ist, daß die Verstorbene mit der verlangten Scheere ihre Wunde, die ihr anfänglich vielleicht noch nicht gros genug schien, zu erweitern im Sinn hatte, so wahrscheinlich ist es auch, daß diese Wunde in der Seite des Unterlei-


dammniß angedroht, wenn er seiner Frau in ihren gottseeligen Uebungen das geringste in den Weg legte.

Wahnsinn also laͤßt sich bei dieser Person nicht vermuthen, wenn man nicht den aufs hoͤchste gestiegenen Religionsenthusiasmus mit diesem Namen belegen will.

Besonders aber ist bei diesem Vorfall merkwuͤrdig:

1) Daß der 17te des Maymonats ein großer Festtag bei der Brudergemeine ist, und daß die Verstorbene gerade den Tag erwaͤhlte, um heimzugehen, und der ewigen Seeligkeit theilhaftig zu werden. Auch bereitete sich

2) Die Verstorbene sehr feyerlich zu ihrem Tode, indem sie sehr oft, doch jedesmal nach einer langen Zwischenpause, mit immerfort gefaltenen Haͤnden ausrief: Jn deine Wunden, mein Heiland ― Ja? ―ja!

So dialogirte sie im Nahmen des Heilandes mit sich selbst, der anwesende Bruder, welcher dergleichen feurige Andachten schon an ihr gewohnt war, argwoͤhnte nichts Bedeutendes in diesen Worten; und sah den Sinn davon erst nach Endigung des Trauerspiels ein.

3) So wahrscheinlich es ist, daß die Verstorbene mit der verlangten Scheere ihre Wunde, die ihr anfaͤnglich vielleicht noch nicht gros genug schien, zu erweitern im Sinn hatte, so wahrscheinlich ist es auch, daß diese Wunde in der Seite des Unterlei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div>
          <p><pb facs="#f0035" n="31"/><lb/>
dammniß angedroht, wenn er seiner Frau in                         ihren gottseeligen Uebungen das geringste in den Weg legte. </p>
          <p>Wahnsinn also la&#x0364;ßt sich bei dieser Person nicht vermuthen, wenn                         man nicht den aufs ho&#x0364;chste gestiegenen Religionsenthusiasmus mit diesem                         Namen belegen will. </p>
          <p>Besonders aber ist bei diesem Vorfall merkwu&#x0364;rdig: </p>
          <p>1) Daß der 17te des Maymonats ein großer Festtag bei der                         Brudergemeine ist, und daß die Verstorbene gerade den Tag erwa&#x0364;hlte, um <hi rendition="#b">heimzugehen,</hi> und der ewigen Seeligkeit theilhaftig zu                         werden. Auch bereitete sich </p>
          <p>2) Die Verstorbene sehr feyerlich zu ihrem Tode, indem sie sehr                         oft, doch jedesmal nach einer langen Zwischenpause, mit immerfort gefaltenen                         Ha&#x0364;nden ausrief: <hi rendition="#b">Jn deine Wunden, mein Heiland &#x2015; Ja?                             &#x2015;ja!</hi></p>
          <p>So dialogirte sie im Nahmen des Heilandes mit sich selbst, der                         anwesende Bruder, welcher dergleichen feurige Andachten schon an ihr gewohnt                         war, argwo&#x0364;hnte nichts Bedeutendes in diesen Worten; und sah den Sinn davon                         erst nach Endigung des Trauerspiels ein. </p>
          <p>3) So wahrscheinlich es ist, daß die Verstorbene mit der                         verlangten Scheere ihre Wunde, die ihr anfa&#x0364;nglich vielleicht noch nicht gros                         genug schien, zu erweitern im Sinn hatte, so wahrscheinlich ist es auch, daß                         diese Wunde in der <hi rendition="#b">Seite</hi> des Unterlei-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[31/0035] dammniß angedroht, wenn er seiner Frau in ihren gottseeligen Uebungen das geringste in den Weg legte. Wahnsinn also laͤßt sich bei dieser Person nicht vermuthen, wenn man nicht den aufs hoͤchste gestiegenen Religionsenthusiasmus mit diesem Namen belegen will. Besonders aber ist bei diesem Vorfall merkwuͤrdig: 1) Daß der 17te des Maymonats ein großer Festtag bei der Brudergemeine ist, und daß die Verstorbene gerade den Tag erwaͤhlte, um heimzugehen, und der ewigen Seeligkeit theilhaftig zu werden. Auch bereitete sich 2) Die Verstorbene sehr feyerlich zu ihrem Tode, indem sie sehr oft, doch jedesmal nach einer langen Zwischenpause, mit immerfort gefaltenen Haͤnden ausrief: Jn deine Wunden, mein Heiland ― Ja? ―ja! So dialogirte sie im Nahmen des Heilandes mit sich selbst, der anwesende Bruder, welcher dergleichen feurige Andachten schon an ihr gewohnt war, argwoͤhnte nichts Bedeutendes in diesen Worten; und sah den Sinn davon erst nach Endigung des Trauerspiels ein. 3) So wahrscheinlich es ist, daß die Verstorbene mit der verlangten Scheere ihre Wunde, die ihr anfaͤnglich vielleicht noch nicht gros genug schien, zu erweitern im Sinn hatte, so wahrscheinlich ist es auch, daß diese Wunde in der Seite des Unterlei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/35
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/35>, abgerufen am 21.11.2024.