Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.
So oft wir verschiedene Reihen von wirksamen Jdeen mit einer von deutlichen Begriffen verbinden sollen, muß keine einzige Vorstellung eintreten, die durch die Stärke des Eindrucks, oder des Antheils, den die Seele daran nimmt, ihre ganze Aufmerksamkeit an sich ziehet. Sobald dieses geschiehet, wird die Wirkung der Jdeenverbindung gehemmt; die Handlung wird unterbrochen, und es entsteht ein Stocken und Anhalten in der Fortschreitung, bis die Seele sich sammlet, und Kraft des deutlich bewußten Vorsatzes, wiederum den ersten Stoß giebt. Einen solchen Zustand nennen wir Zerstreuung. Wir sagen, der Mensch sei zerstreut, wenn er durch fremde, ihm angelegentliche Vorstellungen verhindert wird, eine sonst gewohnte Handlung in gehöriger Ordnung zu verrichten. Wenn er nicht gegenwärtiges Geistes ist, das heißt, öfters durch interessantere Vorstellungen abgerufen wird. Hierdurch läßt sich erklären, warum gewisse Handlungen niemals besser von statten gehen, als wenn sie mit einiger Geschwindigkeit verrichtet werden. Dem Redner, der eine gewisse Rede auswendig gelernt hat, wird sein Gedächtniß treuer bleiben,
So oft wir verschiedene Reihen von wirksamen Jdeen mit einer von deutlichen Begriffen verbinden sollen, muß keine einzige Vorstellung eintreten, die durch die Staͤrke des Eindrucks, oder des Antheils, den die Seele daran nimmt, ihre ganze Aufmerksamkeit an sich ziehet. Sobald dieses geschiehet, wird die Wirkung der Jdeenverbindung gehemmt; die Handlung wird unterbrochen, und es entsteht ein Stocken und Anhalten in der Fortschreitung, bis die Seele sich sammlet, und Kraft des deutlich bewußten Vorsatzes, wiederum den ersten Stoß giebt. Einen solchen Zustand nennen wir Zerstreuung. Wir sagen, der Mensch sei zerstreut, wenn er durch fremde, ihm angelegentliche Vorstellungen verhindert wird, eine sonst gewohnte Handlung in gehoͤriger Ordnung zu verrichten. Wenn er nicht gegenwaͤrtiges Geistes ist, das heißt, oͤfters durch interessantere Vorstellungen abgerufen wird. Hierdurch laͤßt sich erklaͤren, warum gewisse Handlungen niemals besser von statten gehen, als wenn sie mit einiger Geschwindigkeit verrichtet werden. Dem Redner, der eine gewisse Rede auswendig gelernt hat, wird sein Gedaͤchtniß treuer bleiben, <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0058" n="54"/><lb/> weise einen Faden nach dem andern wieder aufnehmen muß, um das Gewebe zu vollenden. Dieses heißt aber nicht, verschiedene Reihen von Gedanken zu gleicher Zeit denken, so wie man verschiedene willkuͤhrliche Bewegungen zu gleicher Zeit hervorbringen kann. </p> <p>So oft wir verschiedene Reihen von wirksamen Jdeen mit einer von deutlichen Begriffen verbinden sollen, muß keine einzige Vorstellung eintreten, die durch die Staͤrke des Eindrucks, oder des Antheils, den die Seele daran nimmt, ihre ganze Aufmerksamkeit an sich ziehet. Sobald dieses geschiehet, wird die Wirkung der Jdeenverbindung gehemmt; die Handlung wird unterbrochen, und es entsteht ein Stocken und Anhalten in der Fortschreitung, bis die Seele sich sammlet, und Kraft des deutlich bewußten Vorsatzes, wiederum den ersten Stoß giebt. Einen solchen Zustand nennen wir <hi rendition="#b">Zerstreuung.</hi> Wir sagen, der Mensch sei zerstreut, wenn er <hi rendition="#b">durch fremde, ihm angelegentliche Vorstellungen verhindert wird, eine sonst gewohnte Handlung in gehoͤriger Ordnung zu verrichten.</hi> Wenn er nicht gegenwaͤrtiges Geistes ist, das heißt, oͤfters durch interessantere Vorstellungen abgerufen wird. </p> <p>Hierdurch laͤßt sich erklaͤren, warum gewisse Handlungen niemals besser von statten gehen, als wenn sie mit einiger Geschwindigkeit verrichtet werden. Dem Redner, der eine gewisse Rede auswendig gelernt hat, wird sein Gedaͤchtniß treuer bleiben,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [54/0058]
weise einen Faden nach dem andern wieder aufnehmen muß, um das Gewebe zu vollenden. Dieses heißt aber nicht, verschiedene Reihen von Gedanken zu gleicher Zeit denken, so wie man verschiedene willkuͤhrliche Bewegungen zu gleicher Zeit hervorbringen kann.
So oft wir verschiedene Reihen von wirksamen Jdeen mit einer von deutlichen Begriffen verbinden sollen, muß keine einzige Vorstellung eintreten, die durch die Staͤrke des Eindrucks, oder des Antheils, den die Seele daran nimmt, ihre ganze Aufmerksamkeit an sich ziehet. Sobald dieses geschiehet, wird die Wirkung der Jdeenverbindung gehemmt; die Handlung wird unterbrochen, und es entsteht ein Stocken und Anhalten in der Fortschreitung, bis die Seele sich sammlet, und Kraft des deutlich bewußten Vorsatzes, wiederum den ersten Stoß giebt. Einen solchen Zustand nennen wir Zerstreuung. Wir sagen, der Mensch sei zerstreut, wenn er durch fremde, ihm angelegentliche Vorstellungen verhindert wird, eine sonst gewohnte Handlung in gehoͤriger Ordnung zu verrichten. Wenn er nicht gegenwaͤrtiges Geistes ist, das heißt, oͤfters durch interessantere Vorstellungen abgerufen wird.
Hierdurch laͤßt sich erklaͤren, warum gewisse Handlungen niemals besser von statten gehen, als wenn sie mit einiger Geschwindigkeit verrichtet werden. Dem Redner, der eine gewisse Rede auswendig gelernt hat, wird sein Gedaͤchtniß treuer bleiben,
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/58>, abgerufen am 16.07.2024. |