Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.Jch versprach nach aller schuldigsten Treue und Fleiß zu thun, was mir unter göttlicher Gnade möglich wäre. Und ich hatte Ursach Gott zu danken, daß er mich als ein Werkzeug in seiner Hand gebrauchen wollte, das Elend meines Nächsten in etwas zu erleichtern. Worauf wir an dem Tage den Anfang machten, und auf alle Art versuchten, ob es nicht möglich wäre, daß sie Buchstaben könnte aussprechen lernen. Allein vergebens, kein anderer Buchstabe wurde gehöret als B, weil das eine Prellung der Lippen ausmachte. Da nun nach aller ersinnlichen Bemühung, sie reden zu lehren, keine Hofnung war, so mußte ich auf Mittel denken, ihr andere Wege zu bahnen, um ihr doch für das erste eine richtige Kenntniß der Buchstaben beizubringen. Jch sahe mich in diesem Falle von vorerwehnten Büchern verlassen. Da die Fräulein von Meding die Buchstaben schon gekannt hatte; in Solbrigs Bericht aber keine Erwähnung dieserhalb geschehen, und das von dem Herrn Superintendent Lasius angezeigte Fingeralphabet uns wohl zu weitläuftig gewesen seyn möchte, indem ich nur täglich zwo Stunden zu diesem Unterricht widmen konnte. Daher machte ich den Versuch, und nahm einen Stock, dessen eines Ende sie zwischen ihre Vorderzähne nehmen mußte, und das andere Ende nahm ich zwischen meine Zähne und redete ihr dadurch zu, wodurch sie in Verwunderung und Erröthung gesetzet Jch versprach nach aller schuldigsten Treue und Fleiß zu thun, was mir unter goͤttlicher Gnade moͤglich waͤre. Und ich hatte Ursach Gott zu danken, daß er mich als ein Werkzeug in seiner Hand gebrauchen wollte, das Elend meines Naͤchsten in etwas zu erleichtern. Worauf wir an dem Tage den Anfang machten, und auf alle Art versuchten, ob es nicht moͤglich waͤre, daß sie Buchstaben koͤnnte aussprechen lernen. Allein vergebens, kein anderer Buchstabe wurde gehoͤret als B, weil das eine Prellung der Lippen ausmachte. Da nun nach aller ersinnlichen Bemuͤhung, sie reden zu lehren, keine Hofnung war, so mußte ich auf Mittel denken, ihr andere Wege zu bahnen, um ihr doch fuͤr das erste eine richtige Kenntniß der Buchstaben beizubringen. Jch sahe mich in diesem Falle von vorerwehnten Buͤchern verlassen. Da die Fraͤulein von Meding die Buchstaben schon gekannt hatte; in Solbrigs Bericht aber keine Erwaͤhnung dieserhalb geschehen, und das von dem Herrn Superintendent Lasius angezeigte Fingeralphabet uns wohl zu weitlaͤuftig gewesen seyn moͤchte, indem ich nur taͤglich zwo Stunden zu diesem Unterricht widmen konnte. Daher machte ich den Versuch, und nahm einen Stock, dessen eines Ende sie zwischen ihre Vorderzaͤhne nehmen mußte, und das andere Ende nahm ich zwischen meine Zaͤhne und redete ihr dadurch zu, wodurch sie in Verwunderung und Erroͤthung gesetzet <TEI> <text> <body> <div> <div> <div> <pb facs="#f0092" n="88"/><lb/> <p>Jch versprach nach aller schuldigsten Treue und Fleiß zu thun, was mir unter goͤttlicher Gnade moͤglich waͤre. Und ich hatte Ursach Gott zu danken, daß er mich als ein Werkzeug in seiner Hand gebrauchen wollte, das Elend meines Naͤchsten in etwas zu erleichtern. </p> <p>Worauf wir an dem Tage den Anfang machten, und auf alle Art versuchten, ob es nicht moͤglich waͤre, daß sie Buchstaben koͤnnte aussprechen lernen. Allein vergebens, kein anderer Buchstabe wurde gehoͤret als B, weil das eine Prellung der Lippen ausmachte. Da nun nach aller ersinnlichen Bemuͤhung, sie reden zu lehren, keine Hofnung war, so mußte ich auf Mittel denken, ihr andere Wege zu bahnen, um ihr doch fuͤr das erste eine richtige Kenntniß der Buchstaben beizubringen. Jch sahe mich in diesem Falle von vorerwehnten Buͤchern verlassen. Da die Fraͤulein von Meding die Buchstaben schon gekannt hatte; in Solbrigs Bericht aber keine Erwaͤhnung dieserhalb geschehen, und das von dem Herrn Superintendent Lasius angezeigte Fingeralphabet uns wohl zu weitlaͤuftig gewesen seyn moͤchte, indem ich nur taͤglich zwo Stunden zu diesem Unterricht widmen konnte. Daher machte ich den Versuch, und nahm einen Stock, dessen eines Ende sie zwischen ihre Vorderzaͤhne nehmen mußte, und das andere Ende nahm ich zwischen meine Zaͤhne und redete ihr dadurch zu, wodurch sie in Verwunderung und Erroͤthung gesetzet<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [88/0092]
Jch versprach nach aller schuldigsten Treue und Fleiß zu thun, was mir unter goͤttlicher Gnade moͤglich waͤre. Und ich hatte Ursach Gott zu danken, daß er mich als ein Werkzeug in seiner Hand gebrauchen wollte, das Elend meines Naͤchsten in etwas zu erleichtern.
Worauf wir an dem Tage den Anfang machten, und auf alle Art versuchten, ob es nicht moͤglich waͤre, daß sie Buchstaben koͤnnte aussprechen lernen. Allein vergebens, kein anderer Buchstabe wurde gehoͤret als B, weil das eine Prellung der Lippen ausmachte. Da nun nach aller ersinnlichen Bemuͤhung, sie reden zu lehren, keine Hofnung war, so mußte ich auf Mittel denken, ihr andere Wege zu bahnen, um ihr doch fuͤr das erste eine richtige Kenntniß der Buchstaben beizubringen. Jch sahe mich in diesem Falle von vorerwehnten Buͤchern verlassen. Da die Fraͤulein von Meding die Buchstaben schon gekannt hatte; in Solbrigs Bericht aber keine Erwaͤhnung dieserhalb geschehen, und das von dem Herrn Superintendent Lasius angezeigte Fingeralphabet uns wohl zu weitlaͤuftig gewesen seyn moͤchte, indem ich nur taͤglich zwo Stunden zu diesem Unterricht widmen konnte. Daher machte ich den Versuch, und nahm einen Stock, dessen eines Ende sie zwischen ihre Vorderzaͤhne nehmen mußte, und das andere Ende nahm ich zwischen meine Zaͤhne und redete ihr dadurch zu, wodurch sie in Verwunderung und Erroͤthung gesetzet
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/92>, abgerufen am 16.02.2025. |