Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite


spräche gewesen war. Dieser Mann hieß Tischer, und war hundert und fünf Jahr alt.

Er hatte Theologie studiert, und war zuletzt Jnformator bei den Kindern eines reichen Kaufmanns in H. gewesen, in dessen Hause er noch lebte, und von dem gegenwärtigen Besitzer desselben, der sein Eleve gewesen, und jetzt selber schon beinahe ein Greiß geworden war, seinen Unterhalt bekam.

Seit seinem funfzigsten Jahre war er taub, und wer mit ihm sprechen wollte, mußte beständig Dinte und Feder bei der Hand haben, und ihm seine Gedanken schriftlich aufsetzen, die er dann sehr vernehmlich und deutlich mündlich beantwortete.

Dabei konnte er noch im hundert und fünften Jahre sein kleingedrucktes griechisches Testament ohne Brille lesen, und redete beständig sehr wahr und zusammenhängend, obgleich oft etwas leise, oder lauter als nöthig war, weil er sich selber nicht hören konnte.

Jm Hause war er nicht anders, als unter dem Nahmen der alte Mann bekannt. Man brachte ihm sein Essen, und sonstige Bequemlichkeiten, übrigens bekümmerte man sich nicht viel um ihn.

Eines Abends also, als Anton gerade bei seinem Donat saß, nahm ihn sein Vater bei der Hand und sagte: komm, jetzt will ich Dich zu einem Manne führen, in dem Du den heiligen Antonius, den heiligen Paulus, und den Erzvater Abraham wieder erblicken wirst.



spraͤche gewesen war. Dieser Mann hieß Tischer, und war hundert und fuͤnf Jahr alt.

Er hatte Theologie studiert, und war zuletzt Jnformator bei den Kindern eines reichen Kaufmanns in H. gewesen, in dessen Hause er noch lebte, und von dem gegenwaͤrtigen Besitzer desselben, der sein Eleve gewesen, und jetzt selber schon beinahe ein Greiß geworden war, seinen Unterhalt bekam.

Seit seinem funfzigsten Jahre war er taub, und wer mit ihm sprechen wollte, mußte bestaͤndig Dinte und Feder bei der Hand haben, und ihm seine Gedanken schriftlich aufsetzen, die er dann sehr vernehmlich und deutlich muͤndlich beantwortete.

Dabei konnte er noch im hundert und fuͤnften Jahre sein kleingedrucktes griechisches Testament ohne Brille lesen, und redete bestaͤndig sehr wahr und zusammenhaͤngend, obgleich oft etwas leise, oder lauter als noͤthig war, weil er sich selber nicht hoͤren konnte.

Jm Hause war er nicht anders, als unter dem Nahmen der alte Mann bekannt. Man brachte ihm sein Essen, und sonstige Bequemlichkeiten, uͤbrigens bekuͤmmerte man sich nicht viel um ihn.

Eines Abends also, als Anton gerade bei seinem Donat saß, nahm ihn sein Vater bei der Hand und sagte: komm, jetzt will ich Dich zu einem Manne fuͤhren, in dem Du den heiligen Antonius, den heiligen Paulus, und den Erzvater Abraham wieder erblicken wirst.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <p><pb facs="#f0093" n="91"/><lb/>
spra&#x0364;che gewesen war. Dieser Mann hieß Tischer, und  war hundert und fu&#x0364;nf Jahr alt. </p>
            <p>Er hatte Theologie studiert, und war zuletzt Jnformator bei den Kindern eines  reichen Kaufmanns in H. gewesen, in dessen Hause er noch lebte, und von dem  gegenwa&#x0364;rtigen Besitzer desselben, der sein Eleve gewesen, und jetzt selber  schon beinahe ein Greiß geworden war, seinen Unterhalt bekam. </p>
            <p>Seit seinem funfzigsten Jahre war er taub, und wer mit ihm sprechen wollte,  mußte besta&#x0364;ndig Dinte und Feder bei der Hand haben, und ihm seine Gedanken  schriftlich aufsetzen, die er dann sehr vernehmlich und deutlich mu&#x0364;ndlich  beantwortete. </p>
            <p>Dabei konnte er noch im hundert und fu&#x0364;nften Jahre sein kleingedrucktes  <choice><corr>griechisches</corr><sic>griechsches</sic></choice> Testament ohne Brille lesen, und redete  besta&#x0364;ndig sehr wahr und zusammenha&#x0364;ngend, obgleich oft etwas leise, oder  lauter als no&#x0364;thig war, weil er sich selber nicht ho&#x0364;ren konnte. </p>
            <p>Jm Hause war er nicht anders, als unter dem Nahmen <hi rendition="#b">der alte  Mann</hi> bekannt. Man brachte ihm sein Essen, und sonstige  Bequemlichkeiten, u&#x0364;brigens beku&#x0364;mmerte man sich nicht viel um ihn. </p>
            <p>Eines Abends also, als Anton gerade bei seinem Donat saß, nahm ihn sein Vater  bei der Hand und sagte: komm, jetzt will ich Dich zu einem Manne fu&#x0364;hren, in  dem Du den heiligen Antonius, den heiligen Paulus, und den Erzvater Abraham  wieder erblicken wirst. </p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0093] spraͤche gewesen war. Dieser Mann hieß Tischer, und war hundert und fuͤnf Jahr alt. Er hatte Theologie studiert, und war zuletzt Jnformator bei den Kindern eines reichen Kaufmanns in H. gewesen, in dessen Hause er noch lebte, und von dem gegenwaͤrtigen Besitzer desselben, der sein Eleve gewesen, und jetzt selber schon beinahe ein Greiß geworden war, seinen Unterhalt bekam. Seit seinem funfzigsten Jahre war er taub, und wer mit ihm sprechen wollte, mußte bestaͤndig Dinte und Feder bei der Hand haben, und ihm seine Gedanken schriftlich aufsetzen, die er dann sehr vernehmlich und deutlich muͤndlich beantwortete. Dabei konnte er noch im hundert und fuͤnften Jahre sein kleingedrucktes griechisches Testament ohne Brille lesen, und redete bestaͤndig sehr wahr und zusammenhaͤngend, obgleich oft etwas leise, oder lauter als noͤthig war, weil er sich selber nicht hoͤren konnte. Jm Hause war er nicht anders, als unter dem Nahmen der alte Mann bekannt. Man brachte ihm sein Essen, und sonstige Bequemlichkeiten, uͤbrigens bekuͤmmerte man sich nicht viel um ihn. Eines Abends also, als Anton gerade bei seinem Donat saß, nahm ihn sein Vater bei der Hand und sagte: komm, jetzt will ich Dich zu einem Manne fuͤhren, in dem Du den heiligen Antonius, den heiligen Paulus, und den Erzvater Abraham wieder erblicken wirst.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784/93
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784/93>, abgerufen am 19.05.2024.