Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.Zur Seelenzeichenkunde. Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere. ![]() Der kleine **, ein Knabe, oder vielmehr ein Kind von etwa acht Jahren hat ungemein viel Drolligtes und Unschuldiges an sich. Jn seiner Mine herrscht außerdem noch etwas Ernsthaftes, welches sich immer mehr und mehr zu entwickeln scheint, und mehr Fähigkeiten und Nachdenken verspricht, als ich anfangs, vor einem halben Jahre, vermuthete. Er hat außerordentlich viel Ehrbegierde. Ueber einen seiner Mitschüler zu kommen, das macht ihn ungemein vergnügt, und sein freudiges Lächeln hat dann etwas Anziehendes, etwas Gefälliges an sich. Will ihm einer seiner Mitschüler den folgenden Tag seinen Platz streitig machen: so bezeigt er seinen Eifer dagegen durch große Gesprächigkeit, wodurch er seine Sache ins Licht setzen will. Wird man überzeugt: so lächelt er, so freut er sich; will man aber nicht überzeugt werden, so verdoppelt sich sein Ernst; er arbeitet dann mit beiden Händen um sich her, faßt sich in die Haare, gleichsam als ob er sagen wollte: was soll ich nun wohl anfangen? Zur Seelenzeichenkunde. Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere. ![]() Der kleine **, ein Knabe, oder vielmehr ein Kind von etwa acht Jahren hat ungemein viel Drolligtes und Unschuldiges an sich. Jn seiner Mine herrscht außerdem noch etwas Ernsthaftes, welches sich immer mehr und mehr zu entwickeln scheint, und mehr Faͤhigkeiten und Nachdenken verspricht, als ich anfangs, vor einem halben Jahre, vermuthete. Er hat außerordentlich viel Ehrbegierde. Ueber einen seiner Mitschuͤler zu kommen, das macht ihn ungemein vergnuͤgt, und sein freudiges Laͤcheln hat dann etwas Anziehendes, etwas Gefaͤlliges an sich. Will ihm einer seiner Mitschuͤler den folgenden Tag seinen Platz streitig machen: so bezeigt er seinen Eifer dagegen durch große Gespraͤchigkeit, wodurch er seine Sache ins Licht setzen will. Wird man uͤberzeugt: so laͤchelt er, so freut er sich; will man aber nicht uͤberzeugt werden, so verdoppelt sich sein Ernst; er arbeitet dann mit beiden Haͤnden um sich her, faßt sich in die Haare, gleichsam als ob er sagen wollte: was soll ich nun wohl anfangen? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0124" n="124"/><lb/><lb/> </div> </div> </div> <div n="2"> <head>Zur Seelenzeichenkunde. Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref88"><note type="editorial"/>Seidel, Johann Friedrich</persName> </bibl> </note> <p>Der kleine **, ein Knabe, oder vielmehr ein Kind von etwa acht Jahren hat ungemein viel Drolligtes und Unschuldiges an sich. Jn seiner Mine herrscht außerdem noch etwas Ernsthaftes, welches sich immer mehr und mehr zu entwickeln scheint, und mehr Faͤhigkeiten und Nachdenken verspricht, als ich anfangs, vor einem halben Jahre, vermuthete. Er hat außerordentlich viel Ehrbegierde. <choice><corr>Ueber</corr><sic>Uber</sic></choice> einen seiner Mitschuͤler zu kommen, das macht ihn ungemein vergnuͤgt, und sein freudiges Laͤcheln hat dann etwas Anziehendes, etwas Gefaͤlliges an sich.</p> <p>Will ihm einer seiner Mitschuͤler den folgenden Tag seinen Platz streitig machen: so bezeigt er seinen Eifer dagegen durch große Gespraͤchigkeit, wodurch er seine Sache ins Licht setzen will. Wird man uͤberzeugt: so laͤchelt er, so freut er sich; will man aber nicht uͤberzeugt werden, so verdoppelt sich sein Ernst; er arbeitet dann mit beiden Haͤnden um sich her, faßt sich in die Haare, gleichsam als ob er sagen wollte: was soll ich nun wohl anfangen?</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [124/0124]
Zur Seelenzeichenkunde. Nebeneinanderstellung jugendlicher Charaktere.
Der kleine **, ein Knabe, oder vielmehr ein Kind von etwa acht Jahren hat ungemein viel Drolligtes und Unschuldiges an sich. Jn seiner Mine herrscht außerdem noch etwas Ernsthaftes, welches sich immer mehr und mehr zu entwickeln scheint, und mehr Faͤhigkeiten und Nachdenken verspricht, als ich anfangs, vor einem halben Jahre, vermuthete. Er hat außerordentlich viel Ehrbegierde. Ueber einen seiner Mitschuͤler zu kommen, das macht ihn ungemein vergnuͤgt, und sein freudiges Laͤcheln hat dann etwas Anziehendes, etwas Gefaͤlliges an sich.
Will ihm einer seiner Mitschuͤler den folgenden Tag seinen Platz streitig machen: so bezeigt er seinen Eifer dagegen durch große Gespraͤchigkeit, wodurch er seine Sache ins Licht setzen will. Wird man uͤberzeugt: so laͤchelt er, so freut er sich; will man aber nicht uͤberzeugt werden, so verdoppelt sich sein Ernst; er arbeitet dann mit beiden Haͤnden um sich her, faßt sich in die Haare, gleichsam als ob er sagen wollte: was soll ich nun wohl anfangen?
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/124>, abgerufen am 16.02.2025. |