Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

Dies wird begreiflich, wenn Sie nur den Versuch machen und einige Minuten Beobachtungen darüber anzustellen sich die Mühe geben wollen. Jch muß aber vorher erinnern: daß Sie nicht etwa bloße Empfindung, oder Bewustseyn, statt der Vorstellung, dabei annehmen, und sich nicht durch den Ton eines Worts täuschen lassen.

Nun denken Sie sich einmal, mit verschlossenen Augen, ein Wort, z.B. Paris, und geben Sie acht: ob sich dies Wort, in Jhrer Einbildung, herbeiziehen, und, wie auf Papier oder auf einer Tafel, so leserlich vorstellen lasse. Jch wette tausend gegen eins, Sie können das nicht; und ists nicht an dem , was ich sage: daß schriftliche Wörter nicht abwesend in uns vorstellbar sind? Zwar werden Sie innerlich bei diesem Versuche, einen Buchstaben nach dem andern, gaukelnd und nebelicht, zu diesem oder jenem Worte, aber nie ein ganzes Wort ordentlich und mit Stetigkeit herbeiziehen und wie auf Papier, oder auf einer Tafel, lesbar darstellen können, weil, wie ich schon gesagt habe, schriftliche Wörter unförmliche und undenkbare Gestalten oder vielmehr gar keine Gestalten sind, die wir Hörenden nur durch Empfindung, niemals aber vorstellbar denken, und daß der Taubstumme zu Tönen keinen Sinn hat, darf ich Jhnen nicht erst sagen.

Diese durch Erfahrung bestätigte Wahrheit: daß ein Taubstummer nicht in abwesender Schriftsprache denken kann, wollen wir voraussetzen, und


Dies wird begreiflich, wenn Sie nur den Versuch machen und einige Minuten Beobachtungen daruͤber anzustellen sich die Muͤhe geben wollen. Jch muß aber vorher erinnern: daß Sie nicht etwa bloße Empfindung, oder Bewustseyn, statt der Vorstellung, dabei annehmen, und sich nicht durch den Ton eines Worts taͤuschen lassen.

Nun denken Sie sich einmal, mit verschlossenen Augen, ein Wort, z.B. Paris, und geben Sie acht: ob sich dies Wort, in Jhrer Einbildung, herbeiziehen, und, wie auf Papier oder auf einer Tafel, so leserlich vorstellen lasse. Jch wette tausend gegen eins, Sie koͤnnen das nicht; und ists nicht an dem , was ich sage: daß schriftliche Woͤrter nicht abwesend in uns vorstellbar sind? Zwar werden Sie innerlich bei diesem Versuche, einen Buchstaben nach dem andern, gaukelnd und nebelicht, zu diesem oder jenem Worte, aber nie ein ganzes Wort ordentlich und mit Stetigkeit herbeiziehen und wie auf Papier, oder auf einer Tafel, lesbar darstellen koͤnnen, weil, wie ich schon gesagt habe, schriftliche Woͤrter unfoͤrmliche und undenkbare Gestalten oder vielmehr gar keine Gestalten sind, die wir Hoͤrenden nur durch Empfindung, niemals aber vorstellbar denken, und daß der Taubstumme zu Toͤnen keinen Sinn hat, darf ich Jhnen nicht erst sagen.

Diese durch Erfahrung bestaͤtigte Wahrheit: daß ein Taubstummer nicht in abwesender Schriftsprache denken kann, wollen wir voraussetzen, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0068" n="68"/><lb/>
            <p>Dies wird begreiflich, wenn Sie nur den Versuch machen und einige Minuten                         Beobachtungen daru&#x0364;ber anzustellen sich die Mu&#x0364;he geben wollen. Jch muß aber                         vorher erinnern: daß Sie nicht etwa bloße Empfindung, oder Bewustseyn, statt                         der Vorstellung, dabei annehmen, und sich nicht durch den Ton eines Worts                         ta&#x0364;uschen lassen.</p>
            <p>Nun denken Sie sich einmal, mit verschlossenen Augen, ein Wort, z.B. <hi rendition="#b">Paris,</hi> und geben Sie acht: ob sich dies Wort, in Jhrer                         Einbildung, herbeiziehen, und, wie auf Papier oder auf einer Tafel, so                         leserlich vorstellen lasse. Jch wette tausend gegen eins, Sie ko&#x0364;nnen das                         nicht; und ists nicht <choice><corr>an dem </corr><sic>andem</sic></choice>, was                         ich sage: daß schriftliche Wo&#x0364;rter nicht abwesend in uns vorstellbar sind?                         Zwar werden Sie innerlich bei diesem Versuche, einen Buchstaben nach dem                         andern, gaukelnd und nebelicht, zu diesem oder jenem Worte, aber nie ein                         ganzes Wort ordentlich und mit Stetigkeit herbeiziehen und wie auf Papier,                         oder auf einer Tafel, lesbar darstellen ko&#x0364;nnen, weil, wie ich schon gesagt                         habe, schriftliche Wo&#x0364;rter unfo&#x0364;rmliche und undenkbare Gestalten oder vielmehr                         gar keine Gestalten sind, die wir Ho&#x0364;renden nur durch Empfindung, niemals                         aber vorstellbar denken, und daß der Taubstumme zu To&#x0364;nen keinen Sinn hat,                         darf ich Jhnen nicht erst sagen.</p>
            <p>Diese durch Erfahrung besta&#x0364;tigte Wahrheit: daß ein Taubstummer nicht in                         abwesender Schriftsprache denken kann, wollen wir voraussetzen, und<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0068] Dies wird begreiflich, wenn Sie nur den Versuch machen und einige Minuten Beobachtungen daruͤber anzustellen sich die Muͤhe geben wollen. Jch muß aber vorher erinnern: daß Sie nicht etwa bloße Empfindung, oder Bewustseyn, statt der Vorstellung, dabei annehmen, und sich nicht durch den Ton eines Worts taͤuschen lassen. Nun denken Sie sich einmal, mit verschlossenen Augen, ein Wort, z.B. Paris, und geben Sie acht: ob sich dies Wort, in Jhrer Einbildung, herbeiziehen, und, wie auf Papier oder auf einer Tafel, so leserlich vorstellen lasse. Jch wette tausend gegen eins, Sie koͤnnen das nicht; und ists nicht an dem , was ich sage: daß schriftliche Woͤrter nicht abwesend in uns vorstellbar sind? Zwar werden Sie innerlich bei diesem Versuche, einen Buchstaben nach dem andern, gaukelnd und nebelicht, zu diesem oder jenem Worte, aber nie ein ganzes Wort ordentlich und mit Stetigkeit herbeiziehen und wie auf Papier, oder auf einer Tafel, lesbar darstellen koͤnnen, weil, wie ich schon gesagt habe, schriftliche Woͤrter unfoͤrmliche und undenkbare Gestalten oder vielmehr gar keine Gestalten sind, die wir Hoͤrenden nur durch Empfindung, niemals aber vorstellbar denken, und daß der Taubstumme zu Toͤnen keinen Sinn hat, darf ich Jhnen nicht erst sagen. Diese durch Erfahrung bestaͤtigte Wahrheit: daß ein Taubstummer nicht in abwesender Schriftsprache denken kann, wollen wir voraussetzen, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/68
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/68>, abgerufen am 21.11.2024.