Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite


die Tafel schreiben können, behalten Jhre Schüler nicht ehr im Gedächtniß bis Sie dieselben erst gelehrt haben, wie die Lage der Zunge, Zähne, Lippen und Kinnbacken bei der Aussprache eines jeden einzelnen Buchstaben beschaffen seyn müsse; und wenn sie es nun dahin gebracht haben, so können sie doch selber nicht urtheilen, ob sie es durch den Ton der Stimme recht oder unrecht ausgedrückt haben.

Zugegeben aber, daß sie durch diese Artikulation weiter kommen; könnte dann die Einbildungskraft jedes Wort ihnen nicht eben so gut ins Gedächtniß zurückrufen, wenn sie auch nicht jede Lage der Sprachwerkzeuge in eben der Ordnung wieder darstellten, indem sie durch die innere Berührung der Zunge mit den übrigen Sprachwerkzeugen den ehemaligen Laut nachahmen -- Wer fühlt nicht die Langsamkeit und Schwierigkeit hierbey?

Daß aber die Schüler sowohl wachend als träumend in ihrer artikulirten Sprache denken sollen, begreife ich nicht recht. Der Franzose denkt also in der französischen, der Lateiner in der lateinischen, der Deutsche in der deutschen Sprache, ich aber denke oft in keiner, da es sich häufig zuträgt, daß ich mir im Traume Dinge vorstelle, die mir bloß meine Phantasie vormahlt, und ich mit keinem Nahmen in irgend einer Sprache zu nennen weiß; ja es fügt sich auch, daß ich an Dinge denke, die einen mir unbekannten Nahmen haben, wie unzäh-


die Tafel schreiben koͤnnen, behalten Jhre Schuͤler nicht ehr im Gedaͤchtniß bis Sie dieselben erst gelehrt haben, wie die Lage der Zunge, Zaͤhne, Lippen und Kinnbacken bei der Aussprache eines jeden einzelnen Buchstaben beschaffen seyn muͤsse; und wenn sie es nun dahin gebracht haben, so koͤnnen sie doch selber nicht urtheilen, ob sie es durch den Ton der Stimme recht oder unrecht ausgedruͤckt haben.

Zugegeben aber, daß sie durch diese Artikulation weiter kommen; koͤnnte dann die Einbildungskraft jedes Wort ihnen nicht eben so gut ins Gedaͤchtniß zuruͤckrufen, wenn sie auch nicht jede Lage der Sprachwerkzeuge in eben der Ordnung wieder darstellten, indem sie durch die innere Beruͤhrung der Zunge mit den uͤbrigen Sprachwerkzeugen den ehemaligen Laut nachahmen ― Wer fuͤhlt nicht die Langsamkeit und Schwierigkeit hierbey?

Daß aber die Schuͤler sowohl wachend als traͤumend in ihrer artikulirten Sprache denken sollen, begreife ich nicht recht. Der Franzose denkt also in der franzoͤsischen, der Lateiner in der lateinischen, der Deutsche in der deutschen Sprache, ich aber denke oft in keiner, da es sich haͤufig zutraͤgt, daß ich mir im Traume Dinge vorstelle, die mir bloß meine Phantasie vormahlt, und ich mit keinem Nahmen in irgend einer Sprache zu nennen weiß; ja es fuͤgt sich auch, daß ich an Dinge denke, die einen mir unbekannten Nahmen haben, wie unzaͤh-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0076" n="76"/><lb/>
die Tafel                         schreiben ko&#x0364;nnen, behalten Jhre Schu&#x0364;ler nicht ehr im Geda&#x0364;chtniß bis                                 <choice><corr>Sie</corr><sic>sie</sic></choice>                         dieselben erst gelehrt haben, wie die Lage der Zunge, Za&#x0364;hne, Lippen und                         Kinnbacken bei der Aussprache eines jeden einzelnen Buchstaben beschaffen                         seyn mu&#x0364;sse; und wenn sie es nun dahin gebracht haben, so ko&#x0364;nnen sie doch                         selber nicht urtheilen, ob sie es durch den Ton der Stimme recht oder                         unrecht ausgedru&#x0364;ckt haben. </p>
            <p>Zugegeben aber, daß sie durch diese Artikulation weiter kommen; ko&#x0364;nnte dann                         die Einbildungskraft jedes Wort ihnen nicht eben so gut ins Geda&#x0364;chtniß                         zuru&#x0364;ckrufen, wenn sie auch nicht jede Lage der Sprachwerkzeuge in eben der                         Ordnung wieder darstellten, indem sie durch die innere Beru&#x0364;hrung der Zunge                         mit den u&#x0364;brigen Sprachwerkzeugen den ehemaligen Laut nachahmen &#x2015; Wer fu&#x0364;hlt                         nicht die Langsamkeit und Schwierigkeit hierbey? </p>
            <p>Daß aber die Schu&#x0364;ler sowohl wachend als tra&#x0364;umend in ihrer artikulirten                         Sprache denken sollen, begreife ich nicht recht. Der Franzose denkt also in                         der franzo&#x0364;sischen, der Lateiner in der lateinischen, der Deutsche in der                         deutschen Sprache, ich aber denke oft in keiner, da es sich ha&#x0364;ufig zutra&#x0364;gt,                         daß ich mir im Traume Dinge vorstelle, die mir bloß meine Phantasie                         vormahlt, und ich mit keinem Nahmen in irgend einer Sprache zu nennen weiß;                         ja es fu&#x0364;gt sich auch, daß ich an Dinge denke, die einen mir unbekannten                         Nahmen haben, wie unza&#x0364;h-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0076] die Tafel schreiben koͤnnen, behalten Jhre Schuͤler nicht ehr im Gedaͤchtniß bis Sie dieselben erst gelehrt haben, wie die Lage der Zunge, Zaͤhne, Lippen und Kinnbacken bei der Aussprache eines jeden einzelnen Buchstaben beschaffen seyn muͤsse; und wenn sie es nun dahin gebracht haben, so koͤnnen sie doch selber nicht urtheilen, ob sie es durch den Ton der Stimme recht oder unrecht ausgedruͤckt haben. Zugegeben aber, daß sie durch diese Artikulation weiter kommen; koͤnnte dann die Einbildungskraft jedes Wort ihnen nicht eben so gut ins Gedaͤchtniß zuruͤckrufen, wenn sie auch nicht jede Lage der Sprachwerkzeuge in eben der Ordnung wieder darstellten, indem sie durch die innere Beruͤhrung der Zunge mit den uͤbrigen Sprachwerkzeugen den ehemaligen Laut nachahmen ― Wer fuͤhlt nicht die Langsamkeit und Schwierigkeit hierbey? Daß aber die Schuͤler sowohl wachend als traͤumend in ihrer artikulirten Sprache denken sollen, begreife ich nicht recht. Der Franzose denkt also in der franzoͤsischen, der Lateiner in der lateinischen, der Deutsche in der deutschen Sprache, ich aber denke oft in keiner, da es sich haͤufig zutraͤgt, daß ich mir im Traume Dinge vorstelle, die mir bloß meine Phantasie vormahlt, und ich mit keinem Nahmen in irgend einer Sprache zu nennen weiß; ja es fuͤgt sich auch, daß ich an Dinge denke, die einen mir unbekannten Nahmen haben, wie unzaͤh-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/76
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/76>, abgerufen am 04.12.2024.