Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0100" n="100"/><lb/> sen geworden ist. Er kann dem Tone der Welt, ja seinem Verstande selbst das Opfer bringen; aber in seinem Herzen glimmt immer noch ein Funken der Schwaͤrmerey fort, der sich bald entzuͤndet und unvermuthet irgendwo auflodert. Der Mann mit der ersten herrschenden Empfindung findet sich immer wieder. <hi rendition="#b">Sterne, Petrarka</hi> und unser großer vaterlaͤndischer Dichter <hi rendition="#b">W.</hi> wuͤrden sich auf dem Wege, der am weitesten von ihrem Herzen abfuͤhrt, wiederfinden lassen, und ich rechne es dem letztern als große Kenntniß des menschlichen Herzens an, daß er seinem Agathon in seinen spaͤtem Jahren eben die Reizbarkeit, eben die Fuͤhlbarkeit, nur in einem andern Grade, giebt, die er in den bezaubernden Myrthenhainen des delphischen Apolls fruͤh einsog. — Jch hatte einen Freund, der sich von aller Empfindsamkeit, zu der sein Temperament und die Nahrung der Modeschriftsteller ihn trieben, mit gewiß maͤnnlichem Muthe losgemacht hatte, der am Ende selbst Religionsempfindungen verwarf, und alles auf kalte Schluͤsse und strenge philosophische Beweise gruͤnden wollte. Aber ich sah ihn oͤfters, wenn er unter eine Bauergemeine trat und einen einfachen Choral in herzlichlautem Tone von einer Orgel begleitet, von andaͤchtigen Landleuten ihrem Gotte entgegentoͤnen hoͤrte; da uͤberwaͤltigte ihn seine Empfindung so sehr, daß er wie ein Kind in Thraͤnen zerfloß. Jch sah ihn einmal vor suͤßer Wehmuth hinter einem<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [100/0100]
sen geworden ist. Er kann dem Tone der Welt, ja seinem Verstande selbst das Opfer bringen; aber in seinem Herzen glimmt immer noch ein Funken der Schwaͤrmerey fort, der sich bald entzuͤndet und unvermuthet irgendwo auflodert. Der Mann mit der ersten herrschenden Empfindung findet sich immer wieder. Sterne, Petrarka und unser großer vaterlaͤndischer Dichter W. wuͤrden sich auf dem Wege, der am weitesten von ihrem Herzen abfuͤhrt, wiederfinden lassen, und ich rechne es dem letztern als große Kenntniß des menschlichen Herzens an, daß er seinem Agathon in seinen spaͤtem Jahren eben die Reizbarkeit, eben die Fuͤhlbarkeit, nur in einem andern Grade, giebt, die er in den bezaubernden Myrthenhainen des delphischen Apolls fruͤh einsog. — Jch hatte einen Freund, der sich von aller Empfindsamkeit, zu der sein Temperament und die Nahrung der Modeschriftsteller ihn trieben, mit gewiß maͤnnlichem Muthe losgemacht hatte, der am Ende selbst Religionsempfindungen verwarf, und alles auf kalte Schluͤsse und strenge philosophische Beweise gruͤnden wollte. Aber ich sah ihn oͤfters, wenn er unter eine Bauergemeine trat und einen einfachen Choral in herzlichlautem Tone von einer Orgel begleitet, von andaͤchtigen Landleuten ihrem Gotte entgegentoͤnen hoͤrte; da uͤberwaͤltigte ihn seine Empfindung so sehr, daß er wie ein Kind in Thraͤnen zerfloß. Jch sah ihn einmal vor suͤßer Wehmuth hinter einem
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