Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0059" n="59"/><lb/> Woͤrter sagen offenbar einerlei; obgleich nicht zu laͤugnen ist, daß <hi rendition="#b">die erstere</hi> einen <hi rendition="#b">ganz andern</hi> Eindruck auf uns macht, als <hi rendition="#b">die zweite.</hi> Wenn wir dicht am Rande eines Abgrundes stehen; so scheint die <hi rendition="#b">grade Linie</hi> von unserm Auge bis an den Boden des Abgrundes hinuntergezogen, allemal <hi rendition="#b">groͤßer</hi> zu seyn, als die, welche wir uns hinaufgezogen denken, wenn wir unten stehen. Sollte nicht an dieser Taͤuschung die Furcht Schuld haben, die uns ergreift, wenn wir eben herabsehen; die Furcht in welcher sich unsere Jmagination gemeiniglich alles zu groß, und schrecklicher vorstellt, als es wuͤrklich ist. Wir koͤnnen ja ruhig an einem Thurm hinaufsehen, und das doch wohl aus dem Grunde, weil wir da nicht herunterzustuͤrzen befuͤrchten. Jch will hier nur beilaͤufig eine Empfindung erwaͤhnen, die ich selbst sehr oft gehabt habe, und davon auch schon einmal in diesem Magazin die Rede gewesen ist, nehmlich <hi rendition="#b">die,</hi> daß man am Rande eines Abgrundes, auf der Galerie eines Thurms, einen <hi rendition="#b">Drang</hi> sich hinabzustuͤrzen fuͤhlt. — Es giebt Leute, die dabei in eine solche Angst gerathen, daß sie schwindlicht werden, und in Ohnmachten sinken. — Jch kann mir die Sache nicht anders als so erklaͤren — die grosse Naͤhe der Gefahr, der ungeheure Abgrund vor unsern Fuͤssen, setzt uns auf einmal in ein solches Schrecken, daß unsere Jmagination uns <hi rendition="#b">den Fehlschluß</hi> abzwingt, daß wir schon im Herabsinken <hi rendition="#b">begriffen waͤren,</hi><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [59/0059]
Woͤrter sagen offenbar einerlei; obgleich nicht zu laͤugnen ist, daß die erstere einen ganz andern Eindruck auf uns macht, als die zweite. Wenn wir dicht am Rande eines Abgrundes stehen; so scheint die grade Linie von unserm Auge bis an den Boden des Abgrundes hinuntergezogen, allemal groͤßer zu seyn, als die, welche wir uns hinaufgezogen denken, wenn wir unten stehen. Sollte nicht an dieser Taͤuschung die Furcht Schuld haben, die uns ergreift, wenn wir eben herabsehen; die Furcht in welcher sich unsere Jmagination gemeiniglich alles zu groß, und schrecklicher vorstellt, als es wuͤrklich ist. Wir koͤnnen ja ruhig an einem Thurm hinaufsehen, und das doch wohl aus dem Grunde, weil wir da nicht herunterzustuͤrzen befuͤrchten. Jch will hier nur beilaͤufig eine Empfindung erwaͤhnen, die ich selbst sehr oft gehabt habe, und davon auch schon einmal in diesem Magazin die Rede gewesen ist, nehmlich die, daß man am Rande eines Abgrundes, auf der Galerie eines Thurms, einen Drang sich hinabzustuͤrzen fuͤhlt. — Es giebt Leute, die dabei in eine solche Angst gerathen, daß sie schwindlicht werden, und in Ohnmachten sinken. — Jch kann mir die Sache nicht anders als so erklaͤren — die grosse Naͤhe der Gefahr, der ungeheure Abgrund vor unsern Fuͤssen, setzt uns auf einmal in ein solches Schrecken, daß unsere Jmagination uns den Fehlschluß abzwingt, daß wir schon im Herabsinken begriffen waͤren,
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