Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 1. Berlin, 1786.
Dieß kömmt nun freilich wohl daher, daß derjenige, der eine solche Krankheit hat, gleich dem Schwindsüchtigen, immer am wenigsten glaubt, daß er sie habe. Und doch ist dieß freilich bittere Geständniß seiner Schwächen gegen sich selbst, gerade die angelegentlichste Sache bei der so nothwendigen Ausübung des gnothi s'auton (Kenne dich selbst) welches immer der Hauptpunkt bleibt, wohin sich alle Erfahrungen in Ansehung der menschlichen Seele vereinigen müssen. Jch wünschte daher auf einige Gesichtspunkte Aufmerksamkeit zu erregen, wodurch der Beobachtungsgeist auf dasjenige hingelenkt würde, was unsre eigentliche Wohlfahrt am nächsten angeht, und wovon das eigentliche Glück unsres Lebens abhängt. -- Das eigentliche Glück unsres Lebens aber hängt doch wohl davon ab, daß wir so wenig, wie möglich, neidisch, habsüchtig, eitel, träge, wollüstig, rachsüchtig u.s.w. sind; denn alles dieß sind ja Krankheiten der Seele, die uns oft mehr, wie irgend eine körperliche Krankheit, die Tage unsres Lebens verbittern können. Da nun das Wesen der Seele vorzüglich in ihrer vorstellenden Kraft besteht, so muß auch der Ursprung der Seelenkrankheiten, in irgend ei-
Dieß koͤmmt nun freilich wohl daher, daß derjenige, der eine solche Krankheit hat, gleich dem Schwindsuͤchtigen, immer am wenigsten glaubt, daß er sie habe. Und doch ist dieß freilich bittere Gestaͤndniß seiner Schwaͤchen gegen sich selbst, gerade die angelegentlichste Sache bei der so nothwendigen Ausuͤbung des γνωθι σ᾽αυτον (Kenne dich selbst) welches immer der Hauptpunkt bleibt, wohin sich alle Erfahrungen in Ansehung der menschlichen Seele vereinigen muͤssen. Jch wuͤnschte daher auf einige Gesichtspunkte Aufmerksamkeit zu erregen, wodurch der Beobachtungsgeist auf dasjenige hingelenkt wuͤrde, was unsre eigentliche Wohlfahrt am naͤchsten angeht, und wovon das eigentliche Gluͤck unsres Lebens abhaͤngt. — Das eigentliche Gluͤck unsres Lebens aber haͤngt doch wohl davon ab, daß wir so wenig, wie moͤglich, neidisch, habsuͤchtig, eitel, traͤge, wolluͤstig, rachsuͤchtig u.s.w. sind; denn alles dieß sind ja Krankheiten der Seele, die uns oft mehr, wie irgend eine koͤrperliche Krankheit, die Tage unsres Lebens verbittern koͤnnen. Da nun das Wesen der Seele vorzuͤglich in ihrer vorstellenden Kraft besteht, so muß auch der Ursprung der Seelenkrankheiten, in irgend ei- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0005" n="3"/><lb/> Neid, die Traͤgheit, die Eitelkeit u.s.w. unter die Gemuͤths- oder Seelenkrankheiten zu rechnen, und auf specifische Mittel dagegen zu denken. </p> <p>Dieß koͤmmt nun freilich wohl daher, daß derjenige, der eine solche Krankheit hat, gleich dem Schwindsuͤchtigen, immer am wenigsten glaubt, daß er sie habe. Und doch ist dieß freilich bittere Gestaͤndniß seiner Schwaͤchen gegen sich selbst, gerade die angelegentlichste Sache bei der so nothwendigen Ausuͤbung des <choice><corr>γνωθι</corr><sic>γωοτι</sic></choice> σ᾽αυτον (Kenne dich selbst) welches immer der Hauptpunkt bleibt, wohin sich alle Erfahrungen in Ansehung der menschlichen Seele vereinigen muͤssen. </p> <p>Jch wuͤnschte daher auf einige Gesichtspunkte Aufmerksamkeit zu erregen, wodurch der Beobachtungsgeist auf dasjenige hingelenkt wuͤrde, was unsre eigentliche Wohlfahrt am naͤchsten angeht, und wovon das eigentliche Gluͤck unsres Lebens abhaͤngt. — </p> <p>Das eigentliche Gluͤck unsres Lebens aber haͤngt doch wohl davon ab, daß wir so wenig, wie moͤglich, neidisch, habsuͤchtig, eitel, traͤge, wolluͤstig, rachsuͤchtig u.s.w. sind; denn alles dieß sind ja Krankheiten der Seele, die uns oft mehr, wie irgend eine koͤrperliche Krankheit, die Tage unsres Lebens verbittern koͤnnen. </p> <p>Da nun das Wesen der Seele vorzuͤglich in ihrer <hi rendition="#b">vorstellenden Kraft</hi> besteht, so muß auch der Ursprung der Seelenkrankheiten, in irgend ei-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [3/0005]
Neid, die Traͤgheit, die Eitelkeit u.s.w. unter die Gemuͤths- oder Seelenkrankheiten zu rechnen, und auf specifische Mittel dagegen zu denken.
Dieß koͤmmt nun freilich wohl daher, daß derjenige, der eine solche Krankheit hat, gleich dem Schwindsuͤchtigen, immer am wenigsten glaubt, daß er sie habe. Und doch ist dieß freilich bittere Gestaͤndniß seiner Schwaͤchen gegen sich selbst, gerade die angelegentlichste Sache bei der so nothwendigen Ausuͤbung des γνωθι σ᾽αυτον (Kenne dich selbst) welches immer der Hauptpunkt bleibt, wohin sich alle Erfahrungen in Ansehung der menschlichen Seele vereinigen muͤssen.
Jch wuͤnschte daher auf einige Gesichtspunkte Aufmerksamkeit zu erregen, wodurch der Beobachtungsgeist auf dasjenige hingelenkt wuͤrde, was unsre eigentliche Wohlfahrt am naͤchsten angeht, und wovon das eigentliche Gluͤck unsres Lebens abhaͤngt. —
Das eigentliche Gluͤck unsres Lebens aber haͤngt doch wohl davon ab, daß wir so wenig, wie moͤglich, neidisch, habsuͤchtig, eitel, traͤge, wolluͤstig, rachsuͤchtig u.s.w. sind; denn alles dieß sind ja Krankheiten der Seele, die uns oft mehr, wie irgend eine koͤrperliche Krankheit, die Tage unsres Lebens verbittern koͤnnen.
Da nun das Wesen der Seele vorzuͤglich in ihrer vorstellenden Kraft besteht, so muß auch der Ursprung der Seelenkrankheiten, in irgend ei-
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