Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 1. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite


thigen; wenn wir hingegen den Menschen von dem Thiere unterscheiden, und ihn doch nicht so schlechthin ein Thier nennen: da geben wir dem Worte Thier eine niedrige, entehrende Bedeutung. Jn dem Worte Ungeheuer steckt gewis auch eine deutsche emphatische Ableitung, die ein Adelung zeigen mag. Aber Unart, Ungezogen, es hat keine Art, sind lauter Emphasen des Guten: denn auch das unanständige hat eine Art, eine Beschaffenheit, auch der Ungezogne ward gezogen, nur schlecht: Aber so sprechen wir auch, ein Mensch ohne Conduite, keine Conduite, Aufführung haben, nehmlich gute, anständige; denn Conduite an sich, betragen, hat auch der ungeschliffenste, nur schlecht: so auch ungesittet, unmanierlich, d.i. ohne gute Sitten, Manieren hat ja jedermann. Mündig, unmündig, hat schlechterdings die emphatische Nebenidee des rechten, klugen, herzhaften, nützlichen Gebrauchs des Mundes, der den Kindern fehlt, die sonst wohl Mundes genung haben. Wie veränderlich ist ferner die Nebenidee in dem Worte zeitige Früchte, zeitig auf die Academie gehen, hat immer den Begriff des zu frühen, unzeitigen: und hingegen, zeitig kommen, aufstehen, die Sonne zeitiget die Früchte, hat die Jdee der rechten, schicklichen Zeit. Unthat, d.i. keine That, heißt eine böse That, die doch auch That ist; und das Lateinische Facinus hat zwar nicht immer den Nebenbegriff der bösen That; wiewohl facinorosus


thigen; wenn wir hingegen den Menschen von dem Thiere unterscheiden, und ihn doch nicht so schlechthin ein Thier nennen: da geben wir dem Worte Thier eine niedrige, entehrende Bedeutung. Jn dem Worte Ungeheuer steckt gewis auch eine deutsche emphatische Ableitung, die ein Adelung zeigen mag. Aber Unart, Ungezogen, es hat keine Art, sind lauter Emphasen des Guten: denn auch das unanstaͤndige hat eine Art, eine Beschaffenheit, auch der Ungezogne ward gezogen, nur schlecht: Aber so sprechen wir auch, ein Mensch ohne Conduite, keine Conduite, Auffuͤhrung haben, nehmlich gute, anstaͤndige; denn Conduite an sich, betragen, hat auch der ungeschliffenste, nur schlecht: so auch ungesittet, unmanierlich, d.i. ohne gute Sitten, Manieren hat ja jedermann. Muͤndig, unmuͤndig, hat schlechterdings die emphatische Nebenidee des rechten, klugen, herzhaften, nuͤtzlichen Gebrauchs des Mundes, der den Kindern fehlt, die sonst wohl Mundes genung haben. Wie veraͤnderlich ist ferner die Nebenidee in dem Worte zeitige Fruͤchte, zeitig auf die Academie gehen, hat immer den Begriff des zu fruͤhen, unzeitigen: und hingegen, zeitig kommen, aufstehen, die Sonne zeitiget die Fruͤchte, hat die Jdee der rechten, schicklichen Zeit. Unthat, d.i. keine That, heißt eine boͤse That, die doch auch That ist; und das Lateinische Facinus hat zwar nicht immer den Nebenbegriff der boͤsen That; wiewohl facinorosus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0063" n="61"/><lb/>
thigen; wenn wir hingegen den                   Menschen von dem Thiere unterscheiden, und ihn doch nicht so schlechthin ein <hi rendition="#b">Thier</hi> nennen: da geben wir dem Worte <hi rendition="#b">Thier</hi> eine niedrige, entehrende Bedeutung. Jn dem Worte <hi rendition="#b">Ungeheuer</hi> steckt gewis auch eine deutsche emphatische                   Ableitung, die ein <hi rendition="#b">Adelung</hi> zeigen mag. Aber <hi rendition="#b">Unart, Ungezogen,</hi> es hat <hi rendition="#b">keine Art,</hi> sind lauter Emphasen des Guten: denn auch das unansta&#x0364;ndige hat eine <hi rendition="#b">Art,</hi> eine Beschaffenheit, auch der Ungezogne ward <hi rendition="#b">gezogen,</hi> nur schlecht: Aber so sprechen wir auch, ein Mensch                   ohne <hi rendition="#b">Conduite,</hi> keine Conduite, Auffu&#x0364;hrung haben, nehmlich <hi rendition="#b">gute,</hi> ansta&#x0364;ndige; denn Conduite an sich, betragen, hat                   auch der ungeschliffenste, nur schlecht: so auch <hi rendition="#b">ungesittet,</hi> unmanierlich, d.i. ohne <hi rendition="#b">gute</hi> Sitten, Manieren hat ja jedermann. Mu&#x0364;ndig, unmu&#x0364;ndig, hat schlechterdings die                   emphatische Nebenidee des rechten, klugen, herzhaften, nu&#x0364;tzlichen Gebrauchs des                   Mundes, der den Kindern fehlt, die sonst wohl <hi rendition="#b">Mundes</hi> genung haben. Wie vera&#x0364;nderlich ist ferner die Nebenidee in dem Worte <hi rendition="#b">zeitige</hi> Fru&#x0364;chte, <hi rendition="#b">zeitig</hi> auf die                   Academie gehen, hat immer den Begriff des <hi rendition="#b">zu</hi> fru&#x0364;hen,                   unzeitigen: und hingegen, zeitig kommen, aufstehen, die Sonne <hi rendition="#b">zeitiget</hi> die Fru&#x0364;chte, hat die Jdee der <hi rendition="#b">rechten,</hi> schicklichen Zeit. <hi rendition="#b">Unthat,</hi> d.i. keine                   That, heißt eine <hi rendition="#b">bo&#x0364;se</hi> That, die doch auch <hi rendition="#b">That</hi> ist; und das Lateinische <hi rendition="#aq">Facinus</hi> hat zwar nicht immer den Nebenbegriff der <hi rendition="#b">bo&#x0364;sen</hi> That; wiewohl <hi rendition="#aq">facinorosus</hi><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0063] thigen; wenn wir hingegen den Menschen von dem Thiere unterscheiden, und ihn doch nicht so schlechthin ein Thier nennen: da geben wir dem Worte Thier eine niedrige, entehrende Bedeutung. Jn dem Worte Ungeheuer steckt gewis auch eine deutsche emphatische Ableitung, die ein Adelung zeigen mag. Aber Unart, Ungezogen, es hat keine Art, sind lauter Emphasen des Guten: denn auch das unanstaͤndige hat eine Art, eine Beschaffenheit, auch der Ungezogne ward gezogen, nur schlecht: Aber so sprechen wir auch, ein Mensch ohne Conduite, keine Conduite, Auffuͤhrung haben, nehmlich gute, anstaͤndige; denn Conduite an sich, betragen, hat auch der ungeschliffenste, nur schlecht: so auch ungesittet, unmanierlich, d.i. ohne gute Sitten, Manieren hat ja jedermann. Muͤndig, unmuͤndig, hat schlechterdings die emphatische Nebenidee des rechten, klugen, herzhaften, nuͤtzlichen Gebrauchs des Mundes, der den Kindern fehlt, die sonst wohl Mundes genung haben. Wie veraͤnderlich ist ferner die Nebenidee in dem Worte zeitige Fruͤchte, zeitig auf die Academie gehen, hat immer den Begriff des zu fruͤhen, unzeitigen: und hingegen, zeitig kommen, aufstehen, die Sonne zeitiget die Fruͤchte, hat die Jdee der rechten, schicklichen Zeit. Unthat, d.i. keine That, heißt eine boͤse That, die doch auch That ist; und das Lateinische Facinus hat zwar nicht immer den Nebenbegriff der boͤsen That; wiewohl facinorosus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0401_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0401_1786/63
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 1. Berlin, 1786, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0401_1786/63>, abgerufen am 04.12.2024.