Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.So sehr er aber abgeneigt war, ein Stück Geld zu entwenden, so wenig hielt er es hingegen für Unrecht, Speisen hinwegzunehmen, denn setzte man ihn etwas zu essen hin, so verzehrete er es, ohne sich eben lange zu besinnen und ohne Erlaubniß dazu, ganz heimlich mit dem größten Appetit, den er fast immer hatte, und derjenige, der es ihm als Unrecht vorstellte, machte ihn im höchsten Grade unwillig; so wie auch der nur seinen Zorn noch mehr entzündete, der ihm die Ausschweifung dieses Affekts als sündlich vor Augen mahlte, und besonders von der Unschicklichkeit der Rache, die er Kinder, die ihn aus Muthwillen beleidigten, öfters genug empfinden ließ, zu überzeugen sich bemühete. Ueberhaupt war es ihm sehr süsse, sich an seinen Beleidigern auf die empfindlichste Art zu rächen, denn das Andenken angethaner Beleidigungen erhielt sich sehr lange in seiner Seele, und wenn er eine solche Person auch nach langer Zeit erblickte, so konnte sie sich nur alsdann wenigstens auf seine Vorwürfe deswegen gefast machen. Dieses Beispiel bestätiget daher auch die schon von so vielen gemachten Beobachtungen, daß die Stummen gemeiniglich zornig, rachgierig, falsch und habsüchtig sind. Daß aber dieses alles und besonders ein bis aufs höchste getriebener Argwohn gewöhnlich die Fehler taubstummgebohrner Menschen sind, läßt So sehr er aber abgeneigt war, ein Stuͤck Geld zu entwenden, so wenig hielt er es hingegen fuͤr Unrecht, Speisen hinwegzunehmen, denn setzte man ihn etwas zu essen hin, so verzehrete er es, ohne sich eben lange zu besinnen und ohne Erlaubniß dazu, ganz heimlich mit dem groͤßten Appetit, den er fast immer hatte, und derjenige, der es ihm als Unrecht vorstellte, machte ihn im hoͤchsten Grade unwillig; so wie auch der nur seinen Zorn noch mehr entzuͤndete, der ihm die Ausschweifung dieses Affekts als suͤndlich vor Augen mahlte, und besonders von der Unschicklichkeit der Rache, die er Kinder, die ihn aus Muthwillen beleidigten, oͤfters genug empfinden ließ, zu uͤberzeugen sich bemuͤhete. Ueberhaupt war es ihm sehr suͤsse, sich an seinen Beleidigern auf die empfindlichste Art zu raͤchen, denn das Andenken angethaner Beleidigungen erhielt sich sehr lange in seiner Seele, und wenn er eine solche Person auch nach langer Zeit erblickte, so konnte sie sich nur alsdann wenigstens auf seine Vorwuͤrfe deswegen gefast machen. Dieses Beispiel bestaͤtiget daher auch die schon von so vielen gemachten Beobachtungen, daß die Stummen gemeiniglich zornig, rachgierig, falsch und habsuͤchtig sind. Daß aber dieses alles und besonders ein bis aufs hoͤchste getriebener Argwohn gewoͤhnlich die Fehler taubstummgebohrner Menschen sind, laͤßt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0051" n="51"/><lb/> <p>So sehr er aber abgeneigt war, ein Stuͤck Geld zu entwenden, so wenig hielt er es hingegen fuͤr Unrecht, Speisen hinwegzunehmen, denn setzte man ihn etwas zu essen hin, so verzehrete er es, ohne sich eben lange zu besinnen und ohne Erlaubniß dazu, ganz heimlich mit dem groͤßten Appetit, den er fast immer hatte, und derjenige, der es ihm als Unrecht vorstellte, machte ihn im hoͤchsten Grade unwillig; so wie auch der nur seinen Zorn noch mehr entzuͤndete, der ihm die Ausschweifung dieses Affekts als suͤndlich vor Augen mahlte, und besonders von der Unschicklichkeit der Rache, die er Kinder, die ihn aus Muthwillen beleidigten, oͤfters genug empfinden ließ, zu uͤberzeugen sich bemuͤhete. Ueberhaupt war es ihm sehr suͤsse, sich an seinen Beleidigern auf die empfindlichste Art zu raͤchen, denn das Andenken angethaner Beleidigungen erhielt sich sehr lange in seiner Seele, und wenn er eine solche Person auch nach langer Zeit erblickte, so konnte sie sich nur alsdann wenigstens auf seine Vorwuͤrfe deswegen gefast machen. </p> <p>Dieses Beispiel bestaͤtiget daher auch die schon von so vielen gemachten Beobachtungen, daß die Stummen gemeiniglich zornig, rachgierig, falsch und habsuͤchtig sind. </p> <p>Daß aber dieses alles und besonders ein bis aufs hoͤchste getriebener Argwohn gewoͤhnlich die Fehler taubstummgebohrner Menschen sind, laͤßt<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [51/0051]
So sehr er aber abgeneigt war, ein Stuͤck Geld zu entwenden, so wenig hielt er es hingegen fuͤr Unrecht, Speisen hinwegzunehmen, denn setzte man ihn etwas zu essen hin, so verzehrete er es, ohne sich eben lange zu besinnen und ohne Erlaubniß dazu, ganz heimlich mit dem groͤßten Appetit, den er fast immer hatte, und derjenige, der es ihm als Unrecht vorstellte, machte ihn im hoͤchsten Grade unwillig; so wie auch der nur seinen Zorn noch mehr entzuͤndete, der ihm die Ausschweifung dieses Affekts als suͤndlich vor Augen mahlte, und besonders von der Unschicklichkeit der Rache, die er Kinder, die ihn aus Muthwillen beleidigten, oͤfters genug empfinden ließ, zu uͤberzeugen sich bemuͤhete. Ueberhaupt war es ihm sehr suͤsse, sich an seinen Beleidigern auf die empfindlichste Art zu raͤchen, denn das Andenken angethaner Beleidigungen erhielt sich sehr lange in seiner Seele, und wenn er eine solche Person auch nach langer Zeit erblickte, so konnte sie sich nur alsdann wenigstens auf seine Vorwuͤrfe deswegen gefast machen.
Dieses Beispiel bestaͤtiget daher auch die schon von so vielen gemachten Beobachtungen, daß die Stummen gemeiniglich zornig, rachgierig, falsch und habsuͤchtig sind.
Daß aber dieses alles und besonders ein bis aufs hoͤchste getriebener Argwohn gewoͤhnlich die Fehler taubstummgebohrner Menschen sind, laͤßt
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/51>, abgerufen am 16.02.2025. |