Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite


Erzählung vergessen hat,
für selbst gesehene Gegenstände hält.

Jch füge noch hinzu: daß dieß insbesondre alsdann statt finden kann, wenn irgend eine Erzählung die kindische Einbildungskraft so stark rührt, daß der sinnliche Eindruck von den umgebenden Gegenständen dadurch überwogen und verdunkelt wird, und auf die Weise ein bloßes Jdeal oder Phantom sich in die Reihe der Wirklichkeiten gleichsam hineinstiehlt; wie denn dieß zuweilen der Fall bei sehr lebhaften Träumen ist, wo man auch manchmal in Gefahr geräth, die Wirklichkeit mit dem Traume zu verwechseln.

Jndes ist es immer merkwürdig, daß der Verfasser des Aufsatzes, der damals noch nie einen Papagei gesehen hatte, seiner Mutter sogar die ganze Farbe des Papageien auf das genaueste und zutreffendste zu sagen wußte, da ihm doch diese Farbe nicht so gut, als die artikulirten Töne, durch die Erzählung deutlich gemacht seyn konnte.

Man sieht aber auch aus diesem Beispiele, wie wir durch die Erzählung andrer, oder durch die Geschichte gleichsam zurückleben, und die Eindrücke, welche wir auf die Weise erhalten, beinahe den wirklichen sinnlichen Eindrücken an Lebhaftigkeit gleich werden können. Durch die Tradition oder Geschichte fällt unser Leben mit dem Leben derer, die vor uns gewesen sind, gleichsam zusammen, und macht mit ihm ein Ganzes aus, wo


Erzaͤhlung vergessen hat,
fuͤr selbst gesehene Gegenstaͤnde haͤlt.

Jch fuͤge noch hinzu: daß dieß insbesondre alsdann statt finden kann, wenn irgend eine Erzaͤhlung die kindische Einbildungskraft so stark ruͤhrt, daß der sinnliche Eindruck von den umgebenden Gegenstaͤnden dadurch uͤberwogen und verdunkelt wird, und auf die Weise ein bloßes Jdeal oder Phantom sich in die Reihe der Wirklichkeiten gleichsam hineinstiehlt; wie denn dieß zuweilen der Fall bei sehr lebhaften Traͤumen ist, wo man auch manchmal in Gefahr geraͤth, die Wirklichkeit mit dem Traume zu verwechseln.

Jndes ist es immer merkwuͤrdig, daß der Verfasser des Aufsatzes, der damals noch nie einen Papagei gesehen hatte, seiner Mutter sogar die ganze Farbe des Papageien auf das genaueste und zutreffendste zu sagen wußte, da ihm doch diese Farbe nicht so gut, als die artikulirten Toͤne, durch die Erzaͤhlung deutlich gemacht seyn konnte.

Man sieht aber auch aus diesem Beispiele, wie wir durch die Erzaͤhlung andrer, oder durch die Geschichte gleichsam zuruͤckleben, und die Eindruͤcke, welche wir auf die Weise erhalten, beinahe den wirklichen sinnlichen Eindruͤcken an Lebhaftigkeit gleich werden koͤnnen. Durch die Tradition oder Geschichte faͤllt unser Leben mit dem Leben derer, die vor uns gewesen sind, gleichsam zusammen, und macht mit ihm ein Ganzes aus, wo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><hi rendition="#b"><pb facs="#f0012" n="12"/><lb/>
Erza&#x0364;hlung vergessen hat,</hi> fu&#x0364;r                         selbst gesehene Gegensta&#x0364;nde ha&#x0364;lt.</p>
          <p>Jch fu&#x0364;ge noch hinzu: daß dieß insbesondre alsdann statt finden kann, wenn                         irgend eine Erza&#x0364;hlung die kindische Einbildungskraft so stark ru&#x0364;hrt, daß der                         sinnliche Eindruck von den umgebenden Gegensta&#x0364;nden dadurch u&#x0364;berwogen und                         verdunkelt wird, und auf die Weise ein bloßes Jdeal oder Phantom sich in die                         Reihe der Wirklichkeiten gleichsam hineinstiehlt; wie denn dieß zuweilen der                         Fall bei sehr lebhaften Tra&#x0364;umen ist, wo man auch manchmal in Gefahr gera&#x0364;th,                         die Wirklichkeit mit dem Traume zu verwechseln.</p>
          <p>Jndes ist es immer merkwu&#x0364;rdig, daß der Verfasser des Aufsatzes, der damals                         noch nie einen Papagei gesehen hatte, seiner Mutter sogar die ganze Farbe                         des Papageien auf das genaueste und zutreffendste zu sagen wußte, da ihm                         doch diese Farbe nicht so gut, als die artikulirten To&#x0364;ne, durch die                         Erza&#x0364;hlung deutlich gemacht seyn konnte.</p>
          <p>Man sieht aber auch aus diesem Beispiele, wie wir durch die <hi rendition="#b">Erza&#x0364;hlung andrer,</hi> oder durch die <hi rendition="#b">Geschichte</hi> gleichsam <hi rendition="#b">zuru&#x0364;ckleben,</hi> und                         die Eindru&#x0364;cke, welche wir auf die Weise erhalten, beinahe den <hi rendition="#b">wirklichen sinnlichen</hi> Eindru&#x0364;cken an Lebhaftigkeit                         gleich werden ko&#x0364;nnen. Durch die Tradition oder Geschichte fa&#x0364;llt unser Leben                         mit dem Leben derer, die vor uns gewesen sind, gleichsam zusammen, und macht                         mit ihm ein Ganzes aus, wo<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[12/0012] Erzaͤhlung vergessen hat, fuͤr selbst gesehene Gegenstaͤnde haͤlt. Jch fuͤge noch hinzu: daß dieß insbesondre alsdann statt finden kann, wenn irgend eine Erzaͤhlung die kindische Einbildungskraft so stark ruͤhrt, daß der sinnliche Eindruck von den umgebenden Gegenstaͤnden dadurch uͤberwogen und verdunkelt wird, und auf die Weise ein bloßes Jdeal oder Phantom sich in die Reihe der Wirklichkeiten gleichsam hineinstiehlt; wie denn dieß zuweilen der Fall bei sehr lebhaften Traͤumen ist, wo man auch manchmal in Gefahr geraͤth, die Wirklichkeit mit dem Traume zu verwechseln. Jndes ist es immer merkwuͤrdig, daß der Verfasser des Aufsatzes, der damals noch nie einen Papagei gesehen hatte, seiner Mutter sogar die ganze Farbe des Papageien auf das genaueste und zutreffendste zu sagen wußte, da ihm doch diese Farbe nicht so gut, als die artikulirten Toͤne, durch die Erzaͤhlung deutlich gemacht seyn konnte. Man sieht aber auch aus diesem Beispiele, wie wir durch die Erzaͤhlung andrer, oder durch die Geschichte gleichsam zuruͤckleben, und die Eindruͤcke, welche wir auf die Weise erhalten, beinahe den wirklichen sinnlichen Eindruͤcken an Lebhaftigkeit gleich werden koͤnnen. Durch die Tradition oder Geschichte faͤllt unser Leben mit dem Leben derer, die vor uns gewesen sind, gleichsam zusammen, und macht mit ihm ein Ganzes aus, wo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/12
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/12>, abgerufen am 03.12.2024.