Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.
Die Gewohnheit, welche alle Menschen mit einem eisernen Zepter beherrscht, und gegen die sanftesten Gefühle des Herzens uns nach und nach ganz gleichgültig machen kann, ist wohl die vornehmste Ursache, warum wir gegen unsere Eltern in unserm täglichen Umgange mit ihnen nicht immer die Zärtlichkeit fühlen, die wir billig gegen sie, als unsere ersten Wohlthäter des Lebens, empfinden sollten; - ein Hinderniß, welches durch den Eindruck, den ihre Fehler auf uns machen, und durch die Züchtigungen, welche wir oft von ihnen empfangen, noch sehr vergrößert werden muß. Trennen wir uns aber von ihnen; so wachen die unterdrückten Gefühle der Sehnsucht und Kinderliebe wieder in uns auf, und wir fangen sie dann nicht selten destomehr in der Ferne zu lieben an, je gleichgültiger sie uns vorher bei einem täglichen Umgange waren. O könnte ich meinen guten Vater noch im Grabe diese Gleichgültigkeit abbitten, könnte ich einen jeden gegen ihn sonst geäußerten unartigen Gedanken, jedes
Die Gewohnheit, welche alle Menschen mit einem eisernen Zepter beherrscht, und gegen die sanftesten Gefuͤhle des Herzens uns nach und nach ganz gleichguͤltig machen kann, ist wohl die vornehmste Ursache, warum wir gegen unsere Eltern in unserm taͤglichen Umgange mit ihnen nicht immer die Zaͤrtlichkeit fuͤhlen, die wir billig gegen sie, als unsere ersten Wohlthaͤter des Lebens, empfinden sollten; – ein Hinderniß, welches durch den Eindruck, den ihre Fehler auf uns machen, und durch die Zuͤchtigungen, welche wir oft von ihnen empfangen, noch sehr vergroͤßert werden muß. Trennen wir uns aber von ihnen; so wachen die unterdruͤckten Gefuͤhle der Sehnsucht und Kinderliebe wieder in uns auf, und wir fangen sie dann nicht selten destomehr in der Ferne zu lieben an, je gleichguͤltiger sie uns vorher bei einem taͤglichen Umgange waren. O koͤnnte ich meinen guten Vater noch im Grabe diese Gleichguͤltigkeit abbitten, koͤnnte ich einen jeden gegen ihn sonst geaͤußerten unartigen Gedanken, jedes <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0100" n="98"/><lb/> jetzt so vor, als ob sie mir immer von neuem laut ins Ohr riefe, obgleich der gute liebenswuͤrdige Vater schon seit mehrern Jahren in seinem Grabe ruhet. Ach! mit wie viel Thraͤnen habe ich dieses Grab benetzt! welche himmlische Sehnsucht nach dem Seeligen habe ich darauf empfunden; – haͤtte ich nie an eine Unsterblichkeit der menschlichen Seele geglaubt: so wuͤrde ich sie da zu glauben angefangen haben.</p> <p>Die Gewohnheit, welche alle Menschen mit einem eisernen Zepter beherrscht, und gegen die sanftesten Gefuͤhle des Herzens uns nach und nach ganz gleichguͤltig machen kann, ist wohl die vornehmste Ursache, warum wir gegen unsere Eltern in unserm taͤglichen Umgange mit ihnen nicht immer die Zaͤrtlichkeit fuͤhlen, die wir billig gegen sie, als unsere ersten Wohlthaͤter des Lebens, empfinden sollten; – ein Hinderniß, welches durch den Eindruck, den ihre Fehler auf uns machen, und durch die Zuͤchtigungen, welche wir oft von ihnen empfangen, noch sehr vergroͤßert werden muß. Trennen wir uns aber von ihnen; so wachen die unterdruͤckten Gefuͤhle der Sehnsucht und Kinderliebe wieder in uns auf, und wir fangen sie dann nicht selten destomehr in der Ferne zu lieben an, je gleichguͤltiger sie uns vorher bei einem taͤglichen Umgange waren. O koͤnnte ich meinen guten Vater noch im Grabe diese Gleichguͤltigkeit abbitten, koͤnnte ich einen jeden gegen ihn sonst geaͤußerten unartigen Gedanken, jedes<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [98/0100]
jetzt so vor, als ob sie mir immer von neuem laut ins Ohr riefe, obgleich der gute liebenswuͤrdige Vater schon seit mehrern Jahren in seinem Grabe ruhet. Ach! mit wie viel Thraͤnen habe ich dieses Grab benetzt! welche himmlische Sehnsucht nach dem Seeligen habe ich darauf empfunden; – haͤtte ich nie an eine Unsterblichkeit der menschlichen Seele geglaubt: so wuͤrde ich sie da zu glauben angefangen haben.
Die Gewohnheit, welche alle Menschen mit einem eisernen Zepter beherrscht, und gegen die sanftesten Gefuͤhle des Herzens uns nach und nach ganz gleichguͤltig machen kann, ist wohl die vornehmste Ursache, warum wir gegen unsere Eltern in unserm taͤglichen Umgange mit ihnen nicht immer die Zaͤrtlichkeit fuͤhlen, die wir billig gegen sie, als unsere ersten Wohlthaͤter des Lebens, empfinden sollten; – ein Hinderniß, welches durch den Eindruck, den ihre Fehler auf uns machen, und durch die Zuͤchtigungen, welche wir oft von ihnen empfangen, noch sehr vergroͤßert werden muß. Trennen wir uns aber von ihnen; so wachen die unterdruͤckten Gefuͤhle der Sehnsucht und Kinderliebe wieder in uns auf, und wir fangen sie dann nicht selten destomehr in der Ferne zu lieben an, je gleichguͤltiger sie uns vorher bei einem taͤglichen Umgange waren. O koͤnnte ich meinen guten Vater noch im Grabe diese Gleichguͤltigkeit abbitten, koͤnnte ich einen jeden gegen ihn sonst geaͤußerten unartigen Gedanken, jedes
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/100 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/100>, abgerufen am 16.02.2025. |