Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.
Der alte Mann hatte mich sehr gern um sich, und ich mußte ihn überall hinbegleiten, wenn ich bei ihm war. Er zeigte mir dann jedesmahl den Vorrath seiner Victualien, seines Getraides, und wenn diese kleine Reise durch Stuben und Kammern gemacht war, setzten wir uns in sein kleines Stübchen, wo ich denn Obst schmaußte, während er mir allerlei Geschichtchen aus seinem Dorfe erzählte. Eines Tages kam ich zu ihm, und er empfing mich mit ausserordentlicher Freundlichkeit, gab mir Kaffe zu trinken, und bath mich, daß ich mich auf seinen Schoos setzen möchte. Jch that es mit vielen Freuden, und er fing mich darauf zu schaukeln an*). Er setzte dieses Schaukeln einige Zeit fort, küßte mich, und fragte mich mit einer lächelnden und zugleich ermunternden Miene: ob ich mich nicht ein bischen entblößen wollte? Jch that es gern; was konnte ich als ein unverständiges Kind einem Mann abschlagen, der mir von je her so viel Aepfel geschenkt hatte,ob mir die Zumuthung gleich etwas sonderbar vorkam. Er schaukelte mich immer mehr, *) Eine böse böse Gewohnheit so vieler Wärterinnen und derer, welche mit Kindern umgehen. Vorsichtige Eltern sollten dies Schaukeln durchaus nicht erlauben, besonders wenn die Kinder etwas heranzuwachsen anfangen.
Der alte Mann hatte mich sehr gern um sich, und ich mußte ihn uͤberall hinbegleiten, wenn ich bei ihm war. Er zeigte mir dann jedesmahl den Vorrath seiner Victualien, seines Getraides, und wenn diese kleine Reise durch Stuben und Kammern gemacht war, setzten wir uns in sein kleines Stuͤbchen, wo ich denn Obst schmaußte, waͤhrend er mir allerlei Geschichtchen aus seinem Dorfe erzaͤhlte. Eines Tages kam ich zu ihm, und er empfing mich mit ausserordentlicher Freundlichkeit, gab mir Kaffe zu trinken, und bath mich, daß ich mich auf seinen Schoos setzen moͤchte. Jch that es mit vielen Freuden, und er fing mich darauf zu schaukeln an*). Er setzte dieses Schaukeln einige Zeit fort, kuͤßte mich, und fragte mich mit einer laͤchelnden und zugleich ermunternden Miene: ob ich mich nicht ein bischen entbloͤßen wollte? Jch that es gern; was konnte ich als ein unverstaͤndiges Kind einem Mann abschlagen, der mir von je her so viel Aepfel geschenkt hatte,ob mir die Zumuthung gleich etwas sonderbar vorkam. Er schaukelte mich immer mehr, *) Eine boͤse boͤse Gewohnheit so vieler Waͤrterinnen und derer, welche mit Kindern umgehen. Vorsichtige Eltern sollten dies Schaukeln durchaus nicht erlauben, besonders wenn die Kinder etwas heranzuwachsen anfangen.
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herrlich schmeckte, da ich zu Hause gewoͤhnlich nur grobes und schwarzes Brod zu essen bekam.
Der alte Mann hatte mich sehr gern um sich, und ich mußte ihn uͤberall hinbegleiten, wenn ich bei ihm war. Er zeigte mir dann jedesmahl den Vorrath seiner Victualien, seines Getraides, und wenn diese kleine Reise durch Stuben und Kammern gemacht war, setzten wir uns in sein kleines Stuͤbchen, wo ich denn Obst schmaußte, waͤhrend er mir allerlei Geschichtchen aus seinem Dorfe erzaͤhlte. Eines Tages kam ich zu ihm, und er empfing mich mit ausserordentlicher Freundlichkeit, gab mir Kaffe zu trinken, und bath mich, daß ich mich auf seinen Schoos setzen moͤchte. Jch that es mit vielen Freuden, und er fing mich darauf zu schaukeln an*) . Er setzte dieses Schaukeln einige Zeit fort, kuͤßte mich, und fragte mich mit einer laͤchelnden und zugleich ermunternden Miene: ob ich mich nicht ein bischen entbloͤßen wollte? Jch that es gern; was konnte ich als ein unverstaͤndiges Kind einem Mann abschlagen, der mir von je her so viel Aepfel geschenkt hatte,ob mir die Zumuthung gleich etwas sonderbar vorkam. Er schaukelte mich immer mehr,
*) Eine boͤse boͤse Gewohnheit so vieler Waͤrterinnen und derer, welche mit Kindern umgehen. Vorsichtige Eltern sollten dies Schaukeln durchaus nicht erlauben, besonders wenn die Kinder etwas heranzuwachsen anfangen.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/103>, abgerufen am 16.07.2024. |