Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite


vergessen hatten; es fallen uns Scenen aus unserer Jugend ein, die wir mit einer erstaunlichen Pünctlichkeit gleichsam vor unsern Augen vorübergehen sehen; oder wir erblicken einen hell leuchtenden Gegenstand, eine abscheuliche, menschliche Gestalt, eine Leiche, einen Abgrund, ein reitzendes Frauenzimmer, einen lächerlichen Kontrast zwischen zwei Gegenständen; oder wir hören einen deutlichen Glockenschall, ein Wort wird uns ins Ohr gerufen, u.s.w.

Besonders merkwürdig sind in diesem Mittelzustande der menschlichen Seele manche Empfindungen unseres Herzens und Gewissens. Mit einer innern lebhaften Wehmuth erinnern wir uns dann oft eines Fehlers unserer Jugend, welcher während daß wir wachten, keine solche unangenehme Empfindung in uns zu erregen pflegte; wir erröthen in der stillen Einsamkeit der Nacht bei gewissen Gedanken vor uns selber, wenn wir gleich den ganzen Tag über von diesem Gefühl verschont wurden. Ein andermahl überrascht uns eine hüpfende Freude, ohne daß wir wissen, worüber wir uns freuen; eine Bangigkeit, ohne daß wir wissen, worüber wir bange sind. Wieder ein andermahl verlieren wir uns mit unsern finstern Gedanken in einem endlosen Himmelsraum, in unendlichen Zahlen und Kreisen, -- ja manche Menschen fühlen in jenen Augenblicken heftige Unruhen über die Gewißheit ihres Glaubens, und werden von unglücklichen Zweifeln über die


vergessen hatten; es fallen uns Scenen aus unserer Jugend ein, die wir mit einer erstaunlichen Puͤnctlichkeit gleichsam vor unsern Augen voruͤbergehen sehen; oder wir erblicken einen hell leuchtenden Gegenstand, eine abscheuliche, menschliche Gestalt, eine Leiche, einen Abgrund, ein reitzendes Frauenzimmer, einen laͤcherlichen Kontrast zwischen zwei Gegenstaͤnden; oder wir hoͤren einen deutlichen Glockenschall, ein Wort wird uns ins Ohr gerufen, u.s.w.

Besonders merkwuͤrdig sind in diesem Mittelzustande der menschlichen Seele manche Empfindungen unseres Herzens und Gewissens. Mit einer innern lebhaften Wehmuth erinnern wir uns dann oft eines Fehlers unserer Jugend, welcher waͤhrend daß wir wachten, keine solche unangenehme Empfindung in uns zu erregen pflegte; wir erroͤthen in der stillen Einsamkeit der Nacht bei gewissen Gedanken vor uns selber, wenn wir gleich den ganzen Tag uͤber von diesem Gefuͤhl verschont wurden. Ein andermahl uͤberrascht uns eine huͤpfende Freude, ohne daß wir wissen, woruͤber wir uns freuen; eine Bangigkeit, ohne daß wir wissen, woruͤber wir bange sind. Wieder ein andermahl verlieren wir uns mit unsern finstern Gedanken in einem endlosen Himmelsraum, in unendlichen Zahlen und Kreisen, — ja manche Menschen fuͤhlen in jenen Augenblicken heftige Unruhen uͤber die Gewißheit ihres Glaubens, und werden von ungluͤcklichen Zweifeln uͤber die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0093" n="93"/><lb/>
vergessen hatten; es                   fallen uns Scenen aus unserer Jugend ein, die wir mit einer erstaunlichen                   Pu&#x0364;nctlichkeit gleichsam vor unsern Augen voru&#x0364;bergehen sehen; oder wir erblicken                   einen hell leuchtenden Gegenstand, eine abscheuliche, menschliche Gestalt, eine                   Leiche, einen Abgrund, ein reitzendes Frauenzimmer, einen la&#x0364;cherlichen Kontrast                   zwischen zwei Gegensta&#x0364;nden; oder wir ho&#x0364;ren einen deutlichen Glockenschall, ein                   Wort wird uns ins Ohr gerufen, u.s.w.</p>
            <p>Besonders merkwu&#x0364;rdig sind in diesem Mittelzustande der menschlichen Seele manche                   Empfindungen unseres Herzens und Gewissens. Mit einer innern lebhaften Wehmuth                   erinnern wir uns dann oft eines Fehlers unserer Jugend, welcher wa&#x0364;hrend daß wir                   wachten, keine solche unangenehme Empfindung in uns zu erregen pflegte; wir                   erro&#x0364;then in der stillen Einsamkeit der Nacht bei gewissen Gedanken vor uns selber,                   wenn wir gleich den ganzen Tag u&#x0364;ber von diesem Gefu&#x0364;hl verschont wurden. Ein                   andermahl u&#x0364;berrascht uns eine hu&#x0364;pfende Freude, ohne daß wir wissen, <hi rendition="#b">woru&#x0364;ber</hi> wir uns freuen; eine Bangigkeit, ohne daß wir                   wissen, woru&#x0364;ber wir bange sind. Wieder ein andermahl verlieren wir uns mit unsern                   finstern Gedanken in einem endlosen Himmelsraum, in unendlichen Zahlen und                   Kreisen, &#x2014; ja manche Menschen fu&#x0364;hlen in jenen Augenblicken heftige Unruhen u&#x0364;ber                   die Gewißheit ihres Glaubens, und werden von unglu&#x0364;cklichen Zweifeln u&#x0364;ber die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0093] vergessen hatten; es fallen uns Scenen aus unserer Jugend ein, die wir mit einer erstaunlichen Puͤnctlichkeit gleichsam vor unsern Augen voruͤbergehen sehen; oder wir erblicken einen hell leuchtenden Gegenstand, eine abscheuliche, menschliche Gestalt, eine Leiche, einen Abgrund, ein reitzendes Frauenzimmer, einen laͤcherlichen Kontrast zwischen zwei Gegenstaͤnden; oder wir hoͤren einen deutlichen Glockenschall, ein Wort wird uns ins Ohr gerufen, u.s.w. Besonders merkwuͤrdig sind in diesem Mittelzustande der menschlichen Seele manche Empfindungen unseres Herzens und Gewissens. Mit einer innern lebhaften Wehmuth erinnern wir uns dann oft eines Fehlers unserer Jugend, welcher waͤhrend daß wir wachten, keine solche unangenehme Empfindung in uns zu erregen pflegte; wir erroͤthen in der stillen Einsamkeit der Nacht bei gewissen Gedanken vor uns selber, wenn wir gleich den ganzen Tag uͤber von diesem Gefuͤhl verschont wurden. Ein andermahl uͤberrascht uns eine huͤpfende Freude, ohne daß wir wissen, woruͤber wir uns freuen; eine Bangigkeit, ohne daß wir wissen, woruͤber wir bange sind. Wieder ein andermahl verlieren wir uns mit unsern finstern Gedanken in einem endlosen Himmelsraum, in unendlichen Zahlen und Kreisen, — ja manche Menschen fuͤhlen in jenen Augenblicken heftige Unruhen uͤber die Gewißheit ihres Glaubens, und werden von ungluͤcklichen Zweifeln uͤber die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/93
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/93>, abgerufen am 21.11.2024.