Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787.
Sonderbar war hiebey die Empfindung, daß ich mich sowohl in als ausser meiner Leiche zu befinden glaubte, denn ich sahe mich erblaßt vor mir liegen, fühlte aber doch auch, daß es nicht meine Leiche war, die über sich selbst nachdachte; sondern ein anderes ausser ihr sich befindliches Wesen." Erlauben Sie mir, daß ich zu diesem Traume meines Freundes noch Folgendes hinzusetzen darf. Jch glaube nicht, daß wir je eine vollkommne Theorie der Träume werden entwerfen können, da die Geburten der Phantasie so unzählig vieler Gestalten fähig sind. Wir richten uns zwar im Traume nach den allgemeinen Gesetzen des Denkens und Empfindens; aber doch nur in so fern, als ohne sie die Einbildungskraft gar nicht würken könnte; denn eigentlich hat sie über die Vernunft fast in jedem Traum die Oberhand. Wir denken eigentlich im Traume nicht, weil wir so denken wollen; sondern weil wir so denken müssen, indem die Einbildungskraft unsern Gedanken ihre Pfade vorzeichnet, die sie mechanisch nehmen müssen. Daher ist eigentlich
Sonderbar war hiebey die Empfindung, daß ich mich sowohl in als ausser meiner Leiche zu befinden glaubte, denn ich sahe mich erblaßt vor mir liegen, fuͤhlte aber doch auch, daß es nicht meine Leiche war, die uͤber sich selbst nachdachte; sondern ein anderes ausser ihr sich befindliches Wesen.« Erlauben Sie mir, daß ich zu diesem Traume meines Freundes noch Folgendes hinzusetzen darf. Jch glaube nicht, daß wir je eine vollkommne Theorie der Traͤume werden entwerfen koͤnnen, da die Geburten der Phantasie so unzaͤhlig vieler Gestalten faͤhig sind. Wir richten uns zwar im Traume nach den allgemeinen Gesetzen des Denkens und Empfindens; aber doch nur in so fern, als ohne sie die Einbildungskraft gar nicht wuͤrken koͤnnte; denn eigentlich hat sie uͤber die Vernunft fast in jedem Traum die Oberhand. Wir denken eigentlich im Traume nicht, weil wir so denken wollen; sondern weil wir so denken muͤssen, indem die Einbildungskraft unsern Gedanken ihre Pfade vorzeichnet, die sie mechanisch nehmen muͤssen. Daher ist eigentlich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0050" n="50"/><lb/> aber in dem Augenblick war meine Seelenangst so stark geworden, daß sie mich wieder wach machte. Jch fand meinen Leib mit Schweiß uͤber und uͤber, und meine Wangen mit Thraͤnen bedeckt, die ich waͤhrend des Traums geweint hatte.</p> <p>Sonderbar war hiebey die Empfindung, daß ich mich sowohl in als ausser meiner Leiche zu befinden glaubte, denn ich sahe mich erblaßt vor mir liegen, fuͤhlte aber doch auch, daß es nicht meine Leiche war, die uͤber sich selbst nachdachte; sondern ein anderes ausser ihr sich befindliches Wesen.«</p> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <p>Erlauben Sie mir, daß ich zu diesem Traume meines Freundes noch Folgendes hinzusetzen darf. Jch glaube nicht, daß wir je eine vollkommne Theorie der Traͤume werden entwerfen koͤnnen, da die Geburten der Phantasie so unzaͤhlig vieler Gestalten faͤhig sind. Wir richten uns zwar im Traume nach den allgemeinen Gesetzen des Denkens und Empfindens; aber doch nur in so fern, als ohne sie die Einbildungskraft gar nicht wuͤrken koͤnnte; denn eigentlich hat sie uͤber die Vernunft fast in jedem Traum die Oberhand. Wir denken eigentlich im Traume nicht, weil wir so denken <hi rendition="#b">wollen;</hi> sondern weil wir so denken <hi rendition="#b">muͤssen,</hi> indem die Einbildungskraft unsern Gedanken ihre Pfade vorzeichnet, die sie mechanisch nehmen muͤssen. Daher ist eigentlich<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [50/0050]
aber in dem Augenblick war meine Seelenangst so stark geworden, daß sie mich wieder wach machte. Jch fand meinen Leib mit Schweiß uͤber und uͤber, und meine Wangen mit Thraͤnen bedeckt, die ich waͤhrend des Traums geweint hatte.
Sonderbar war hiebey die Empfindung, daß ich mich sowohl in als ausser meiner Leiche zu befinden glaubte, denn ich sahe mich erblaßt vor mir liegen, fuͤhlte aber doch auch, daß es nicht meine Leiche war, die uͤber sich selbst nachdachte; sondern ein anderes ausser ihr sich befindliches Wesen.«
Erlauben Sie mir, daß ich zu diesem Traume meines Freundes noch Folgendes hinzusetzen darf. Jch glaube nicht, daß wir je eine vollkommne Theorie der Traͤume werden entwerfen koͤnnen, da die Geburten der Phantasie so unzaͤhlig vieler Gestalten faͤhig sind. Wir richten uns zwar im Traume nach den allgemeinen Gesetzen des Denkens und Empfindens; aber doch nur in so fern, als ohne sie die Einbildungskraft gar nicht wuͤrken koͤnnte; denn eigentlich hat sie uͤber die Vernunft fast in jedem Traum die Oberhand. Wir denken eigentlich im Traume nicht, weil wir so denken wollen; sondern weil wir so denken muͤssen, indem die Einbildungskraft unsern Gedanken ihre Pfade vorzeichnet, die sie mechanisch nehmen muͤssen. Daher ist eigentlich
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787/50>, abgerufen am 16.07.2024. |