Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite


denkt, ob wir uns gleich dieser Gründe nicht immer bewußt sind. Hat man uns schon eine Beschreibung und Vergleichung der unbekannten Person gemacht: so stellt man sie sich auch ungefähr wie den mit ihr verglichenen Gegenstand vor, aber doch nicht ganz so; sondern wir leihen ihr Züge, die sie von jenem in etwas unterscheiden, und aus einem Gemisch von mehrern, von andern ähnlichen Gegenständen hergenommenen, Kennzeichen bestehen; hat man uns aber noch gar keine körperliche Beschreibung von der unbekannten Person gemacht: so bildet sich unsere Phantasie von irgend einem oder mehrern Umständen, die wir von der Person wissen, ein eigenes Bild, welches freilich selten zutrifft. Dieses Bild kann bisweilen eine solche Lebhaftigkeit und Festigkeit in uns erhalten, daß es uns gar nicht möglich ist, uns die Person anders, als nach dieser Phantasie vorzustellen; daher die öftere Verwirrung, worin sich Leute befinden, die sich zum erstenmale sehen, wovon ich hier ein ausgemachtes Beispiel liefere.

Der Staatsminister *** aus ** machte vor einigen Jahren durch einige Provinzen des Staats eine Reise, um verschiedene bei dem Justiz- und Finanzwesen eingeschlichene Misbräuche zu untersuchen. Wohin er kam, wurde er mit aller Ehre, die seinem Stande gebührte, empfangen, und in verschiedenen Städten wurde er mit feierlichen Reden von Seiten des Magistrats bewillkommt. Eine


denkt, ob wir uns gleich dieser Gruͤnde nicht immer bewußt sind. Hat man uns schon eine Beschreibung und Vergleichung der unbekannten Person gemacht: so stellt man sie sich auch ungefaͤhr wie den mit ihr verglichenen Gegenstand vor, aber doch nicht ganz so; sondern wir leihen ihr Zuͤge, die sie von jenem in etwas unterscheiden, und aus einem Gemisch von mehrern, von andern aͤhnlichen Gegenstaͤnden hergenommenen, Kennzeichen bestehen; hat man uns aber noch gar keine koͤrperliche Beschreibung von der unbekannten Person gemacht: so bildet sich unsere Phantasie von irgend einem oder mehrern Umstaͤnden, die wir von der Person wissen, ein eigenes Bild, welches freilich selten zutrifft. Dieses Bild kann bisweilen eine solche Lebhaftigkeit und Festigkeit in uns erhalten, daß es uns gar nicht moͤglich ist, uns die Person anders, als nach dieser Phantasie vorzustellen; daher die oͤftere Verwirrung, worin sich Leute befinden, die sich zum erstenmale sehen, wovon ich hier ein ausgemachtes Beispiel liefere.

Der Staatsminister *** aus ** machte vor einigen Jahren durch einige Provinzen des Staats eine Reise, um verschiedene bei dem Justiz- und Finanzwesen eingeschlichene Misbraͤuche zu untersuchen. Wohin er kam, wurde er mit aller Ehre, die seinem Stande gebuͤhrte, empfangen, und in verschiedenen Staͤdten wurde er mit feierlichen Reden von Seiten des Magistrats bewillkommt. Eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0034" n="32"/><lb/>
denkt, ob wir uns gleich dieser Gru&#x0364;nde nicht                   immer bewußt sind. Hat man uns schon eine Beschreibung und Vergleichung der                   unbekannten Person gemacht: so stellt man sie sich auch ungefa&#x0364;hr wie den mit ihr                   verglichenen Gegenstand vor, aber doch nicht ganz so; sondern wir leihen ihr Zu&#x0364;ge,                   die sie von jenem in etwas unterscheiden, und aus einem Gemisch von mehrern, von                   andern a&#x0364;hnlichen Gegensta&#x0364;nden hergenommenen, Kennzeichen bestehen; hat man uns                   aber noch gar keine ko&#x0364;rperliche Beschreibung von der unbekannten Person gemacht:                   so bildet sich unsere Phantasie von irgend einem oder mehrern Umsta&#x0364;nden, die wir                   von der Person wissen, ein eigenes Bild, welches freilich selten zutrifft. Dieses                   Bild kann bisweilen eine solche Lebhaftigkeit und Festigkeit in uns erhalten, daß                   es uns gar nicht mo&#x0364;glich ist, uns die Person anders, als nach dieser Phantasie                   vorzustellen; daher die o&#x0364;ftere Verwirrung, worin sich Leute befinden, die sich zum                   erstenmale sehen, wovon ich hier ein ausgemachtes Beispiel liefere.</p>
            <p>Der Staatsminister *** aus ** machte vor einigen Jahren durch einige Provinzen des                   Staats eine Reise, um verschiedene bei dem Justiz- und Finanzwesen eingeschlichene                   Misbra&#x0364;uche zu untersuchen. Wohin er kam, wurde er mit aller Ehre, die seinem                   Stande gebu&#x0364;hrte, empfangen, und in verschiedenen Sta&#x0364;dten wurde er mit feierlichen                   Reden von Seiten des Magistrats bewillkommt. Eine<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[32/0034] denkt, ob wir uns gleich dieser Gruͤnde nicht immer bewußt sind. Hat man uns schon eine Beschreibung und Vergleichung der unbekannten Person gemacht: so stellt man sie sich auch ungefaͤhr wie den mit ihr verglichenen Gegenstand vor, aber doch nicht ganz so; sondern wir leihen ihr Zuͤge, die sie von jenem in etwas unterscheiden, und aus einem Gemisch von mehrern, von andern aͤhnlichen Gegenstaͤnden hergenommenen, Kennzeichen bestehen; hat man uns aber noch gar keine koͤrperliche Beschreibung von der unbekannten Person gemacht: so bildet sich unsere Phantasie von irgend einem oder mehrern Umstaͤnden, die wir von der Person wissen, ein eigenes Bild, welches freilich selten zutrifft. Dieses Bild kann bisweilen eine solche Lebhaftigkeit und Festigkeit in uns erhalten, daß es uns gar nicht moͤglich ist, uns die Person anders, als nach dieser Phantasie vorzustellen; daher die oͤftere Verwirrung, worin sich Leute befinden, die sich zum erstenmale sehen, wovon ich hier ein ausgemachtes Beispiel liefere. Der Staatsminister *** aus ** machte vor einigen Jahren durch einige Provinzen des Staats eine Reise, um verschiedene bei dem Justiz- und Finanzwesen eingeschlichene Misbraͤuche zu untersuchen. Wohin er kam, wurde er mit aller Ehre, die seinem Stande gebuͤhrte, empfangen, und in verschiedenen Staͤdten wurde er mit feierlichen Reden von Seiten des Magistrats bewillkommt. Eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/34
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/34>, abgerufen am 23.11.2024.