Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0013" n="13"/><lb/> menschliche Seele laͤßt sich erstaunlich gern auf eine angenehme Art <hi rendition="#b">taͤuschen,</hi> und die Taͤuschung ist ihr unzaͤhlig oft mehr werth, als Realitaͤt. Die im Schauspiel vorgestellten, in einem kurzen Zeitraum zusammengedraͤngten, mit den lebhaftesten Farben geschilderten Auftritte des menschlichen Lebens reissen die Einbildungskraft mit sich fort. Der Wechsel der dadurch hervorgebrachten Empfindungen gewaͤhrt der Vorstellungskraft eine leichte Thaͤtigkeit, spannt die Seele, erhebt das Gefuͤhl fuͤr große Handlungen und Jdeen, und bringt uns gemeiniglich dahin, daß wir gern Triebfedern in der Jntrigue des Stuͤcks seyn moͤgten. Der erwartete und nach wenigen Augenblicken entschiedene Ausgang des Stuͤcks, worin sich alles auf eine geschickte Art concentrirt, worauf wir vorher aufmerksam gemacht wurden, verschafft unsern Gefuͤhlen gemeiniglich eine voͤllige Genugthuung. Wir sehn die ganze Scene vor Augen, anstatt daß wir im gemeinen menschlichen Leben nicht immer die Rollen ausspielen sehn, und wenn dies geschieht, durch die Laͤnge der Zeit die gehoͤrige Aufmerksamkeit und Spannung der Seele verlieren. Durch alle jene Umstaͤnde wird nun so aͤusserst leicht die Liebe zum Theater in jungen lebhaften Gemuͤthern erzeugt, und oft bis zur hoͤchsten Hoͤhe gebracht, wenn sich eine zaͤrtliche Neigung des Herzens mit in's Spiel mischt, was beim Verfasser obiger Briefe sehr wahrscheinlich der Fall seyn mogte.</p> </div><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [13/0013]
menschliche Seele laͤßt sich erstaunlich gern auf eine angenehme Art taͤuschen, und die Taͤuschung ist ihr unzaͤhlig oft mehr werth, als Realitaͤt. Die im Schauspiel vorgestellten, in einem kurzen Zeitraum zusammengedraͤngten, mit den lebhaftesten Farben geschilderten Auftritte des menschlichen Lebens reissen die Einbildungskraft mit sich fort. Der Wechsel der dadurch hervorgebrachten Empfindungen gewaͤhrt der Vorstellungskraft eine leichte Thaͤtigkeit, spannt die Seele, erhebt das Gefuͤhl fuͤr große Handlungen und Jdeen, und bringt uns gemeiniglich dahin, daß wir gern Triebfedern in der Jntrigue des Stuͤcks seyn moͤgten. Der erwartete und nach wenigen Augenblicken entschiedene Ausgang des Stuͤcks, worin sich alles auf eine geschickte Art concentrirt, worauf wir vorher aufmerksam gemacht wurden, verschafft unsern Gefuͤhlen gemeiniglich eine voͤllige Genugthuung. Wir sehn die ganze Scene vor Augen, anstatt daß wir im gemeinen menschlichen Leben nicht immer die Rollen ausspielen sehn, und wenn dies geschieht, durch die Laͤnge der Zeit die gehoͤrige Aufmerksamkeit und Spannung der Seele verlieren. Durch alle jene Umstaͤnde wird nun so aͤusserst leicht die Liebe zum Theater in jungen lebhaften Gemuͤthern erzeugt, und oft bis zur hoͤchsten Hoͤhe gebracht, wenn sich eine zaͤrtliche Neigung des Herzens mit in's Spiel mischt, was beim Verfasser obiger Briefe sehr wahrscheinlich der Fall seyn mogte.
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