Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite


wurde in ihrer Kindheit verzärtelt, zu einem eigensinnigen, mürrischen und empfindsamen Geschöpf erzogen. Wurde zu keiner weiblichen Arbeit angehalten, las beständig, und sie wurde bald eine fromme Empfindsame, die immer betete und sang. Starkes Getränke als Caffee, ferner häufiges Sitzen, und guter Appetit machten ihren Körper stark und beim Erwachen neuer Gefühle sehr reizbar. Sie verliebte sich auf einem Ball in einen Officier, (weswegen schon manches Mädchen toll geworden ist) aber sie bekömmt ihn nicht wieder zu sehen. Ein anderer Freier stellt sich ein, und sie muß auf Zudringen der Eltern ihm ihr Jawort geben. Jhr Gemahl gewinnt bald ihre ganze Liebe; aber endlich kommt ihr der Officier wieder in den Kopf-- und endlich ist eine gänzliche Verrückung da. Beispiele der Art sind gar nicht selten; aber sie bleiben immer sehr traurige Beweise von der Heftigkeit weiblicher Leidenschaften.


Das Sonderbarste, was in diesem 3ten Stük des 4ten Bandes unter der Rubrik: Seelenkrankheitskunde etwas uneigentlich vorkommt, ist das, was Herr Kammerrath Tiemann von einer gewissen Frau erzählt, welche bei jeder neuen Schwangerschaft ein Glied eines ihrer Finger verlohren haben soll. Sie sagte: "drei oder vier Wochen nach einer neuen Empfängniß empfinde ich einen Schuß


wurde in ihrer Kindheit verzaͤrtelt, zu einem eigensinnigen, muͤrrischen und empfindsamen Geschoͤpf erzogen. Wurde zu keiner weiblichen Arbeit angehalten, las bestaͤndig, und sie wurde bald eine fromme Empfindsame, die immer betete und sang. Starkes Getraͤnke als Caffee, ferner haͤufiges Sitzen, und guter Appetit machten ihren Koͤrper stark und beim Erwachen neuer Gefuͤhle sehr reizbar. Sie verliebte sich auf einem Ball in einen Officier, (weswegen schon manches Maͤdchen toll geworden ist) aber sie bekoͤmmt ihn nicht wieder zu sehen. Ein anderer Freier stellt sich ein, und sie muß auf Zudringen der Eltern ihm ihr Jawort geben. Jhr Gemahl gewinnt bald ihre ganze Liebe; aber endlich kommt ihr der Officier wieder in den Kopf— und endlich ist eine gaͤnzliche Verruͤckung da. Beispiele der Art sind gar nicht selten; aber sie bleiben immer sehr traurige Beweise von der Heftigkeit weiblicher Leidenschaften.


Das Sonderbarste, was in diesem 3ten Stuͤk des 4ten Bandes unter der Rubrik: Seelenkrankheitskunde etwas uneigentlich vorkommt, ist das, was Herr Kammerrath Tiemann von einer gewissen Frau erzaͤhlt, welche bei jeder neuen Schwangerschaft ein Glied eines ihrer Finger verlohren haben soll. Sie sagte: »drei oder vier Wochen nach einer neuen Empfaͤngniß empfinde ich einen Schuß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0020" n="20"/><lb/>
wurde in ihrer Kindheit verza&#x0364;rtelt, zu einem eigensinnigen, mu&#x0364;rrischen und                         empfindsamen Gescho&#x0364;pf erzogen. Wurde zu keiner weiblichen Arbeit angehalten,                         las besta&#x0364;ndig, und sie wurde bald eine fromme Empfindsame, die immer betete                         und sang. Starkes Getra&#x0364;nke als Caffee, ferner ha&#x0364;ufiges Sitzen, und guter                         Appetit machten ihren Ko&#x0364;rper stark und beim Erwachen neuer Gefu&#x0364;hle sehr                         reizbar. Sie verliebte sich auf einem Ball in einen Officier, (weswegen                         schon manches Ma&#x0364;dchen toll geworden ist) aber sie beko&#x0364;mmt ihn nicht wieder                         zu sehen. Ein anderer Freier stellt sich ein, und sie muß auf Zudringen der                         Eltern ihm ihr Jawort geben. Jhr Gemahl gewinnt bald ihre ganze Liebe; aber                         endlich kommt ihr der Officier wieder in den Kopf&#x2014; und endlich ist eine                         ga&#x0364;nzliche Verru&#x0364;ckung da. Beispiele der Art sind gar nicht selten; aber sie                         bleiben immer sehr traurige Beweise von der Heftigkeit weiblicher                         Leidenschaften.</p>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <p>Das Sonderbarste, was in diesem 3ten Stu&#x0364;k des 4ten Bandes                         unter der Rubrik: Seelenkrankheitskunde etwas uneigentlich vorkommt, ist                         das, was Herr Kammerrath <hi rendition="#b"><persName ref="#ref0097"><note type="editorial">Tiemann, Johann Ernst</note>Tiemann</persName></hi> von einer gewissen Frau erza&#x0364;hlt, welche bei jeder neuen Schwangerschaft ein                         Glied eines ihrer Finger verlohren haben soll. Sie sagte: <choice><corr>»drei</corr><sic>drei</sic></choice> oder vier                         Wochen nach einer neuen Empfa&#x0364;ngniß empfinde ich einen Schuß<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0020] wurde in ihrer Kindheit verzaͤrtelt, zu einem eigensinnigen, muͤrrischen und empfindsamen Geschoͤpf erzogen. Wurde zu keiner weiblichen Arbeit angehalten, las bestaͤndig, und sie wurde bald eine fromme Empfindsame, die immer betete und sang. Starkes Getraͤnke als Caffee, ferner haͤufiges Sitzen, und guter Appetit machten ihren Koͤrper stark und beim Erwachen neuer Gefuͤhle sehr reizbar. Sie verliebte sich auf einem Ball in einen Officier, (weswegen schon manches Maͤdchen toll geworden ist) aber sie bekoͤmmt ihn nicht wieder zu sehen. Ein anderer Freier stellt sich ein, und sie muß auf Zudringen der Eltern ihm ihr Jawort geben. Jhr Gemahl gewinnt bald ihre ganze Liebe; aber endlich kommt ihr der Officier wieder in den Kopf— und endlich ist eine gaͤnzliche Verruͤckung da. Beispiele der Art sind gar nicht selten; aber sie bleiben immer sehr traurige Beweise von der Heftigkeit weiblicher Leidenschaften. Das Sonderbarste, was in diesem 3ten Stuͤk des 4ten Bandes unter der Rubrik: Seelenkrankheitskunde etwas uneigentlich vorkommt, ist das, was Herr Kammerrath Tiemann von einer gewissen Frau erzaͤhlt, welche bei jeder neuen Schwangerschaft ein Glied eines ihrer Finger verlohren haben soll. Sie sagte: »drei oder vier Wochen nach einer neuen Empfaͤngniß empfinde ich einen Schuß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/20
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/20>, abgerufen am 03.12.2024.