Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite


sich ihrer wahrscheinlich der Gedanke mit größter Stärke: -- nun stirbst du. -- Dieser Gedanke blieb während der Zeit, da sie noch nicht wieder zu sich selbst gekommen war, der einzige und herrschende in ihrer Seele. Alle andern Vorstellungen wurden gleichsam unwillkürlich in den Hintergrund der Seele geschoben, und diese nahm durch seine Lebhaftigkeit überrascht gar bald einen Habitus an, jenen Gedanken als herrschend zu unterhalten. Die ungewöhnlichsten und seltsamsten Jdeen können einen solchen Habitus bekommen, wenn die Seele aus ihrer gewöhnlichen Denkordnung auf einmal herausgeworfen, und in eine ganz neue Hauptidee hineingezwungen wird. Eine plözliche körperliche Unordnung im Gehirn, oder auch eine heftige Ueberraschung können einen solchen Umtausch veranlassen, und wir sind dann nicht mehr im Stande, die Ungereimtheit der leztern einzusehen, weil wir eine richtige Folge unsrer Vorstellungen (selbst beim Wahnsinne) zu bemerken glauben. Dieß ist bei allen seltsamen Einbildungen der Fall. Der welcher sie hat, kann sich nicht überreden, daß es Einbildungen sind, theils weil ihre Lebhaftigkeit nicht mehr eine Vergleichung mit andern natürlichern und vernünftigern Vorstellungen zuläßt; theils weil der Eingebildete keine Lücke, keinen Sprung in seiner neuen Denkform wahrnimt, und die Entwickelung aller seiner Nebenideen aus einer einzigen Hauptidee ihm sehr natürlich und den Gesetzen des menschlichen Denkens gemäß vorkommt. Hieraus


sich ihrer wahrscheinlich der Gedanke mit groͤßter Staͤrke: — nun stirbst du. — Dieser Gedanke blieb waͤhrend der Zeit, da sie noch nicht wieder zu sich selbst gekommen war, der einzige und herrschende in ihrer Seele. Alle andern Vorstellungen wurden gleichsam unwillkuͤrlich in den Hintergrund der Seele geschoben, und diese nahm durch seine Lebhaftigkeit uͤberrascht gar bald einen Habitus an, jenen Gedanken als herrschend zu unterhalten. Die ungewoͤhnlichsten und seltsamsten Jdeen koͤnnen einen solchen Habitus bekommen, wenn die Seele aus ihrer gewoͤhnlichen Denkordnung auf einmal herausgeworfen, und in eine ganz neue Hauptidee hineingezwungen wird. Eine ploͤzliche koͤrperliche Unordnung im Gehirn, oder auch eine heftige Ueberraschung koͤnnen einen solchen Umtausch veranlassen, und wir sind dann nicht mehr im Stande, die Ungereimtheit der leztern einzusehen, weil wir eine richtige Folge unsrer Vorstellungen (selbst beim Wahnsinne) zu bemerken glauben. Dieß ist bei allen seltsamen Einbildungen der Fall. Der welcher sie hat, kann sich nicht uͤberreden, daß es Einbildungen sind, theils weil ihre Lebhaftigkeit nicht mehr eine Vergleichung mit andern natuͤrlichern und vernuͤnftigern Vorstellungen zulaͤßt; theils weil der Eingebildete keine Luͤcke, keinen Sprung in seiner neuen Denkform wahrnimt, und die Entwickelung aller seiner Nebenideen aus einer einzigen Hauptidee ihm sehr natuͤrlich und den Gesetzen des menschlichen Denkens gemaͤß vorkommt. Hieraus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0045" n="45"/><lb/>
sich ihrer                         wahrscheinlich der Gedanke mit gro&#x0364;ßter Sta&#x0364;rke: <hi rendition="#b">&#x2014; nun                             stirbst du. &#x2014;</hi> Dieser Gedanke blieb wa&#x0364;hrend der Zeit, da sie noch                         nicht wieder zu sich selbst gekommen war, der einzige und herrschende in                         ihrer Seele. Alle andern Vorstellungen wurden gleichsam unwillku&#x0364;rlich                                 <choice><corr>in den</corr><sic>in</sic></choice>                         Hintergrund der Seele geschoben, und diese nahm durch seine Lebhaftigkeit                         u&#x0364;berrascht gar bald einen Habitus an, jenen Gedanken als herrschend zu                         unterhalten. Die ungewo&#x0364;hnlichsten und seltsamsten Jdeen ko&#x0364;nnen einen solchen                         Habitus bekommen, wenn die Seele aus ihrer gewo&#x0364;hnlichen Denkordnung <hi rendition="#b">auf einmal</hi> herausgeworfen, und in eine ganz neue                         Hauptidee hineingezwungen wird. Eine plo&#x0364;zliche ko&#x0364;rperliche Unordnung im                         Gehirn, oder auch eine heftige Ueberraschung ko&#x0364;nnen einen solchen Umtausch                         veranlassen, und wir sind dann nicht mehr im Stande, die Ungereimtheit der                         leztern einzusehen, weil wir eine <hi rendition="#b">richtige</hi> Folge                         unsrer Vorstellungen (selbst beim Wahnsinne) zu bemerken glauben. Dieß ist                         bei allen seltsamen Einbildungen der Fall. Der welcher sie hat, kann sich                         nicht u&#x0364;berreden, daß es Einbildungen sind, theils weil ihre Lebhaftigkeit                         nicht mehr eine Vergleichung mit andern natu&#x0364;rlichern und vernu&#x0364;nftigern                         Vorstellungen zula&#x0364;ßt; theils weil der Eingebildete keine Lu&#x0364;cke, keinen                         Sprung in seiner neuen Denkform wahrnimt, und die Entwickelung aller seiner                         Nebenideen aus einer einzigen Hauptidee ihm sehr natu&#x0364;rlich und den Gesetzen                         des menschlichen Denkens gema&#x0364;ß vorkommt. Hieraus<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[45/0045] sich ihrer wahrscheinlich der Gedanke mit groͤßter Staͤrke: — nun stirbst du. — Dieser Gedanke blieb waͤhrend der Zeit, da sie noch nicht wieder zu sich selbst gekommen war, der einzige und herrschende in ihrer Seele. Alle andern Vorstellungen wurden gleichsam unwillkuͤrlich in den Hintergrund der Seele geschoben, und diese nahm durch seine Lebhaftigkeit uͤberrascht gar bald einen Habitus an, jenen Gedanken als herrschend zu unterhalten. Die ungewoͤhnlichsten und seltsamsten Jdeen koͤnnen einen solchen Habitus bekommen, wenn die Seele aus ihrer gewoͤhnlichen Denkordnung auf einmal herausgeworfen, und in eine ganz neue Hauptidee hineingezwungen wird. Eine ploͤzliche koͤrperliche Unordnung im Gehirn, oder auch eine heftige Ueberraschung koͤnnen einen solchen Umtausch veranlassen, und wir sind dann nicht mehr im Stande, die Ungereimtheit der leztern einzusehen, weil wir eine richtige Folge unsrer Vorstellungen (selbst beim Wahnsinne) zu bemerken glauben. Dieß ist bei allen seltsamen Einbildungen der Fall. Der welcher sie hat, kann sich nicht uͤberreden, daß es Einbildungen sind, theils weil ihre Lebhaftigkeit nicht mehr eine Vergleichung mit andern natuͤrlichern und vernuͤnftigern Vorstellungen zulaͤßt; theils weil der Eingebildete keine Luͤcke, keinen Sprung in seiner neuen Denkform wahrnimt, und die Entwickelung aller seiner Nebenideen aus einer einzigen Hauptidee ihm sehr natuͤrlich und den Gesetzen des menschlichen Denkens gemaͤß vorkommt. Hieraus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/45
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/45>, abgerufen am 30.04.2024.