Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden. 1787 im Nov.

-- -- -- -- -- -- -- Jch denke nun die Merkwürdigkeiten dieser Stadt so ziemlich durchgemacht zu haben, und muß Jhnen gestehen liebster Freund, daß ich weit mehr Anziehendes darinn fand, als ich mündlichen und schriftlichen Nachrichten zufolge erwarten durfte. Dieß gilt von würdigen und interessanten Menschen eben so gut, als von politischen- litterarischen- und Kunst-Merkwürdigkeiten. Gestern führte mich mein Freund Doctor H*. zweiter Leibmedicus des Fürsten, nach unsrer Verabredung ins Tollhaus, welches er Amts halber selbst zu versehen hat. Er gestand mir, daß sich anfangs, als ihm diese Pflicht auferlegt wurde, seine ganze Menschlichkeit dagegen empörte, und daß ihn die gräßlichen Gruppen von Menschenelend, und von fluchender Verzweiflung und viehischer Fühllosigkeit eine geraume Zeit für Freude und geselligen Umgang abgestumpft hätten. Mählig aber hab' er sich durch den täglichen Anblik an das Schauspiel gewöhnt, und eine reichere Quelle als irgendwo zu neuen physiologisch-psychologischen Jdeen und Beobachtun-


Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden. 1787 im Nov.

— — — — — — — Jch denke nun die Merkwuͤrdigkeiten dieser Stadt so ziemlich durchgemacht zu haben, und muß Jhnen gestehen liebster Freund, daß ich weit mehr Anziehendes darinn fand, als ich muͤndlichen und schriftlichen Nachrichten zufolge erwarten durfte. Dieß gilt von wuͤrdigen und interessanten Menschen eben so gut, als von politischen- litterarischen- und Kunst-Merkwuͤrdigkeiten. Gestern fuͤhrte mich mein Freund Doctor H*. zweiter Leibmedicus des Fuͤrsten, nach unsrer Verabredung ins Tollhaus, welches er Amts halber selbst zu versehen hat. Er gestand mir, daß sich anfangs, als ihm diese Pflicht auferlegt wurde, seine ganze Menschlichkeit dagegen empoͤrte, und daß ihn die graͤßlichen Gruppen von Menschenelend, und von fluchender Verzweiflung und viehischer Fuͤhllosigkeit eine geraume Zeit fuͤr Freude und geselligen Umgang abgestumpft haͤtten. Maͤhlig aber hab' er sich durch den taͤglichen Anblik an das Schauspiel gewoͤhnt, und eine reichere Quelle als irgendwo zu neuen physiologisch-psychologischen Jdeen und Beobachtun-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0090" n="90"/><lb/><lb/>
          </div>
          <div n="3">
            <head>Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden.                     <note type="editorial"><bibl><persName ref="#ref45"><note type="editorial"/>Schubart, Ludwig Albert</persName></bibl></note>                     1787 im Nov.</head><lb/>
            <p>&#x2014; &#x2014; &#x2014; &#x2014; &#x2014; &#x2014; &#x2014; Jch denke nun die Merkwu&#x0364;rdigkeiten dieser                         Stadt so ziemlich durchgemacht zu haben, und muß Jhnen gestehen liebster                         Freund, daß ich weit mehr Anziehendes darinn fand, als ich mu&#x0364;ndlichen und                         schriftlichen Nachrichten zufolge erwarten durfte. Dieß gilt von wu&#x0364;rdigen                         und interessanten Menschen eben so gut, als von politischen- litterarischen-                         und Kunst-Merkwu&#x0364;rdigkeiten. Gestern fu&#x0364;hrte mich mein Freund Doctor H*.                         zweiter Leibmedicus des Fu&#x0364;rsten, <hi rendition="#b">nach unsrer Verabredung                             ins Tollhaus,</hi> welches er Amts halber selbst zu versehen hat. Er                         gestand mir, daß sich anfangs, als ihm diese Pflicht auferlegt wurde, seine                         ganze Menschlichkeit dagegen empo&#x0364;rte, und daß ihn die gra&#x0364;ßlichen Gruppen von                         Menschenelend, und von fluchender Verzweiflung und viehischer Fu&#x0364;hllosigkeit                         eine geraume Zeit fu&#x0364;r Freude und geselligen Umgang abgestumpft ha&#x0364;tten.                         Ma&#x0364;hlig aber hab' er sich durch den ta&#x0364;glichen Anblik an das Schauspiel                         gewo&#x0364;hnt, und eine reichere Quelle als irgendwo zu neuen                         physiologisch-psychologischen Jdeen und Beobachtun-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[90/0090] Fragment aus dem Tagebuch eines Reisenden. 1787 im Nov. — — — — — — — Jch denke nun die Merkwuͤrdigkeiten dieser Stadt so ziemlich durchgemacht zu haben, und muß Jhnen gestehen liebster Freund, daß ich weit mehr Anziehendes darinn fand, als ich muͤndlichen und schriftlichen Nachrichten zufolge erwarten durfte. Dieß gilt von wuͤrdigen und interessanten Menschen eben so gut, als von politischen- litterarischen- und Kunst-Merkwuͤrdigkeiten. Gestern fuͤhrte mich mein Freund Doctor H*. zweiter Leibmedicus des Fuͤrsten, nach unsrer Verabredung ins Tollhaus, welches er Amts halber selbst zu versehen hat. Er gestand mir, daß sich anfangs, als ihm diese Pflicht auferlegt wurde, seine ganze Menschlichkeit dagegen empoͤrte, und daß ihn die graͤßlichen Gruppen von Menschenelend, und von fluchender Verzweiflung und viehischer Fuͤhllosigkeit eine geraume Zeit fuͤr Freude und geselligen Umgang abgestumpft haͤtten. Maͤhlig aber hab' er sich durch den taͤglichen Anblik an das Schauspiel gewoͤhnt, und eine reichere Quelle als irgendwo zu neuen physiologisch-psychologischen Jdeen und Beobachtun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/90
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/90>, abgerufen am 04.12.2024.