Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 2. Berlin, 1791.
Er war nun in einer üblen Lage, weil er nichts hatte woran er sich halten, und wenn er fiel, wieder aufrichten konnte; denn was sollte ihn nun vor Fehltritten behüten, und ihn wieder aufrichten und trösten, wenn er gefehlt hatte? Wollte er andere Schriften lesen, was sollte er dann aus so vielen für welche wählen, da ohnedem die bishergelesenen alle andern Arten ohne Unterschied ausschlossen, und sie ihn aus Gesichtspunkten betrachten gelehrt hatten, woraus sie ihm nicht anders als schlecht und schädlich erscheinen konnten? Und daß er von allen bisherigen Vorurtheilen sogleich auf einmal hätte frei seyn sollen, war ganz natürlicher Weise nicht möglich, weil zwischen diesen Vorurtheilen doch viel Wahres und Gutes enthalten, und damit nun einmal verwebet und in ein System gebracht war, daß es also erst viel Zeit erforderte, das Gute von dem Schlechten zu sondern und zu ordnen. Unterdessen war ihm doch nun einmal alle Neigung, in den mystischen Schriften zu lesen, vergangen, und da er nun nicht gleich etwas anders hatte, was er in dessen Stelle hätte setzen können, so hätte er leicht von einem Extreme auf das andere, und in Ansehung seiner Lebensart auf allerlei Excesse verfallen können, wozu er vielfältig Gelegenheit hatte, und wodurch er sich so hätte verschlimmern
Er war nun in einer uͤblen Lage, weil er nichts hatte woran er sich halten, und wenn er fiel, wieder aufrichten konnte; denn was sollte ihn nun vor Fehltritten behuͤten, und ihn wieder aufrichten und troͤsten, wenn er gefehlt hatte? Wollte er andere Schriften lesen, was sollte er dann aus so vielen fuͤr welche waͤhlen, da ohnedem die bishergelesenen alle andern Arten ohne Unterschied ausschlossen, und sie ihn aus Gesichtspunkten betrachten gelehrt hatten, woraus sie ihm nicht anders als schlecht und schaͤdlich erscheinen konnten? Und daß er von allen bisherigen Vorurtheilen sogleich auf einmal haͤtte frei seyn sollen, war ganz natuͤrlicher Weise nicht moͤglich, weil zwischen diesen Vorurtheilen doch viel Wahres und Gutes enthalten, und damit nun einmal verwebet und in ein System gebracht war, daß es also erst viel Zeit erforderte, das Gute von dem Schlechten zu sondern und zu ordnen. Unterdessen war ihm doch nun einmal alle Neigung, in den mystischen Schriften zu lesen, vergangen, und da er nun nicht gleich etwas anders hatte, was er in dessen Stelle haͤtte setzen koͤnnen, so haͤtte er leicht von einem Extreme auf das andere, und in Ansehung seiner Lebensart auf allerlei Excesse verfallen koͤnnen, wozu er vielfaͤltig Gelegenheit hatte, und wodurch er sich so haͤtte verschlimmern <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0074" n="74"/><lb/> Bilder der Einbildungskraft, weil seine Seele sich nicht mehr damit beruhigen konnte. </p> <p>Er war nun in einer uͤblen Lage, weil er nichts hatte woran er sich halten, und wenn er fiel, wieder aufrichten konnte; denn was sollte ihn nun vor Fehltritten behuͤten, und ihn wieder aufrichten und troͤsten, wenn er gefehlt hatte? </p> <p>Wollte er andere Schriften lesen, was sollte er dann aus so vielen fuͤr welche waͤhlen, da ohnedem die bishergelesenen alle andern Arten ohne Unterschied ausschlossen, und sie ihn aus Gesichtspunkten betrachten gelehrt hatten, woraus sie ihm nicht anders als schlecht und schaͤdlich erscheinen konnten? </p> <p>Und daß er von allen bisherigen Vorurtheilen sogleich auf einmal haͤtte frei seyn sollen, war ganz natuͤrlicher Weise nicht moͤglich, weil zwischen diesen Vorurtheilen doch viel Wahres und Gutes enthalten, und damit nun einmal verwebet und in ein System gebracht war, daß es also erst viel Zeit erforderte, das Gute von dem Schlechten zu sondern und zu ordnen. </p> <p>Unterdessen war ihm doch nun einmal alle Neigung, in den mystischen Schriften zu lesen, vergangen, und da er nun nicht gleich etwas anders hatte, was er in dessen Stelle haͤtte setzen koͤnnen, so haͤtte er leicht von einem Extreme auf das andere, und in Ansehung seiner Lebensart auf allerlei Excesse verfallen koͤnnen, wozu er vielfaͤltig Gelegenheit hatte, und wodurch er sich so haͤtte verschlimmern<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [74/0074]
Bilder der Einbildungskraft, weil seine Seele sich nicht mehr damit beruhigen konnte.
Er war nun in einer uͤblen Lage, weil er nichts hatte woran er sich halten, und wenn er fiel, wieder aufrichten konnte; denn was sollte ihn nun vor Fehltritten behuͤten, und ihn wieder aufrichten und troͤsten, wenn er gefehlt hatte?
Wollte er andere Schriften lesen, was sollte er dann aus so vielen fuͤr welche waͤhlen, da ohnedem die bishergelesenen alle andern Arten ohne Unterschied ausschlossen, und sie ihn aus Gesichtspunkten betrachten gelehrt hatten, woraus sie ihm nicht anders als schlecht und schaͤdlich erscheinen konnten?
Und daß er von allen bisherigen Vorurtheilen sogleich auf einmal haͤtte frei seyn sollen, war ganz natuͤrlicher Weise nicht moͤglich, weil zwischen diesen Vorurtheilen doch viel Wahres und Gutes enthalten, und damit nun einmal verwebet und in ein System gebracht war, daß es also erst viel Zeit erforderte, das Gute von dem Schlechten zu sondern und zu ordnen.
Unterdessen war ihm doch nun einmal alle Neigung, in den mystischen Schriften zu lesen, vergangen, und da er nun nicht gleich etwas anders hatte, was er in dessen Stelle haͤtte setzen koͤnnen, so haͤtte er leicht von einem Extreme auf das andere, und in Ansehung seiner Lebensart auf allerlei Excesse verfallen koͤnnen, wozu er vielfaͤltig Gelegenheit hatte, und wodurch er sich so haͤtte verschlimmern
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 2. Berlin, 1791, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0802_1791/74>, abgerufen am 16.02.2025. |