Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792.
Nur dann und wann waren lichte Blicke in seiner Seele, in denen er entweder nach K. schrieb, oder in Meiners philosophischer Sprachlehre las. Seine Briefe waren zusammenhängend, aber beim Schreiben las er, nach einigen hinzugesetzten Wörtern, stets das Ganze von Vorne durch -- gleichsam als setze er ein Mißtrauen in sich selbst, und fürchtete er den Zusammenhang verloren zu haben. Auch kam er in dem gedachten Buche nicht weiter, als bis auf die dritte Seite. Er fing, so oft er es zur Hand nahm, immer von Vorne an, und das erste Blatt erschöpfte schon seine ganze Besinnungskraft. War er in diesen lichten Augenblicken zum Sprechen zu bringen, so suchte er gewöhnlich etwas wissenschaftliches an den Faden seines Gesprächs zu knüpfen, wo er dann seine Meinung mit vieler Wärme, oft mit wahrem Scharfsinne vertheidigte, und seine Zuhörer den Verlust seines Verstandes doppelt bedauern ließ. Leides fügte er niemanden zu; und selbst, wenn er in der Zerstreuung einigen Schaden anrichtete, entschuldigte er sich sogleich deshalb. Seine Wirthinn, die Büchsenschäfterinn Leib, feierte den Ge-
Nur dann und wann waren lichte Blicke in seiner Seele, in denen er entweder nach K. schrieb, oder in Meiners philosophischer Sprachlehre las. Seine Briefe waren zusammenhaͤngend, aber beim Schreiben las er, nach einigen hinzugesetzten Woͤrtern, stets das Ganze von Vorne durch — gleichsam als setze er ein Mißtrauen in sich selbst, und fuͤrchtete er den Zusammenhang verloren zu haben. Auch kam er in dem gedachten Buche nicht weiter, als bis auf die dritte Seite. Er fing, so oft er es zur Hand nahm, immer von Vorne an, und das erste Blatt erschoͤpfte schon seine ganze Besinnungskraft. War er in diesen lichten Augenblicken zum Sprechen zu bringen, so suchte er gewoͤhnlich etwas wissenschaftliches an den Faden seines Gespraͤchs zu knuͤpfen, wo er dann seine Meinung mit vieler Waͤrme, oft mit wahrem Scharfsinne vertheidigte, und seine Zuhoͤrer den Verlust seines Verstandes doppelt bedauern ließ. Leides fuͤgte er niemanden zu; und selbst, wenn er in der Zerstreuung einigen Schaden anrichtete, entschuldigte er sich sogleich deshalb. Seine Wirthinn, die Buͤchsenschaͤfterinn Leib, feierte den Ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0076" n="76"/><lb/> Theil davon, loͤsete den uͤbrigen in Wasser auf, und goß, nachdem er etwas von dieser Aufloͤsung getrunken, das uͤbrige zum Fenster hinaus. Auch stand er stundenlang nackt vor dem Spiegel, und besah sich in demselben mit aͤußerster Gefaͤlligkeit. </p> <p>Nur dann und wann waren lichte Blicke in seiner Seele, in denen er entweder nach K. schrieb, oder in Meiners philosophischer Sprachlehre las. Seine Briefe waren zusammenhaͤngend, aber beim Schreiben las er, nach einigen hinzugesetzten Woͤrtern, stets das Ganze von Vorne durch — gleichsam als setze er ein Mißtrauen in sich selbst, und fuͤrchtete er den Zusammenhang verloren zu haben. Auch kam er in dem gedachten Buche nicht weiter, als bis auf die dritte Seite. Er fing, so oft er es zur Hand nahm, immer von Vorne an, und das erste Blatt erschoͤpfte schon seine ganze Besinnungskraft. War er in diesen lichten Augenblicken zum Sprechen zu bringen, so suchte er gewoͤhnlich etwas wissenschaftliches an den Faden seines Gespraͤchs zu knuͤpfen, wo er dann seine Meinung mit vieler Waͤrme, oft mit wahrem Scharfsinne vertheidigte, und seine Zuhoͤrer den Verlust seines Verstandes doppelt bedauern ließ. </p> <p>Leides fuͤgte er niemanden zu; und selbst, wenn er in der Zerstreuung einigen Schaden anrichtete, entschuldigte er sich sogleich deshalb. Seine Wirthinn, die Buͤchsenschaͤfterinn Leib, feierte den Ge-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [76/0076]
Theil davon, loͤsete den uͤbrigen in Wasser auf, und goß, nachdem er etwas von dieser Aufloͤsung getrunken, das uͤbrige zum Fenster hinaus. Auch stand er stundenlang nackt vor dem Spiegel, und besah sich in demselben mit aͤußerster Gefaͤlligkeit.
Nur dann und wann waren lichte Blicke in seiner Seele, in denen er entweder nach K. schrieb, oder in Meiners philosophischer Sprachlehre las. Seine Briefe waren zusammenhaͤngend, aber beim Schreiben las er, nach einigen hinzugesetzten Woͤrtern, stets das Ganze von Vorne durch — gleichsam als setze er ein Mißtrauen in sich selbst, und fuͤrchtete er den Zusammenhang verloren zu haben. Auch kam er in dem gedachten Buche nicht weiter, als bis auf die dritte Seite. Er fing, so oft er es zur Hand nahm, immer von Vorne an, und das erste Blatt erschoͤpfte schon seine ganze Besinnungskraft. War er in diesen lichten Augenblicken zum Sprechen zu bringen, so suchte er gewoͤhnlich etwas wissenschaftliches an den Faden seines Gespraͤchs zu knuͤpfen, wo er dann seine Meinung mit vieler Waͤrme, oft mit wahrem Scharfsinne vertheidigte, und seine Zuhoͤrer den Verlust seines Verstandes doppelt bedauern ließ.
Leides fuͤgte er niemanden zu; und selbst, wenn er in der Zerstreuung einigen Schaden anrichtete, entschuldigte er sich sogleich deshalb. Seine Wirthinn, die Buͤchsenschaͤfterinn Leib, feierte den Ge-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 9, St. 3. Berlin, 1792, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0903_1792/76>, abgerufen am 16.02.2025. |