Demohngeachtet war Thracien auch das Va- terland des Orpheus, der durch seinen Gesang und durch die Töne seiner Leyer die Wildheit der Thiere des Waldes zähmte, und Bäume und Felsen sich bewegen ließ.
Durch sein mächtiges Saitenspiel ließ selbst der Orkus sich bewegen, ihm seine Gattin Eury- dice zurückzugeben, nur sollte er nicht eher nach ihr sich umsehen, als bis er sie wieder auf die Oberwelt zum Anblick des Tages und des himmli- schen Lichts gebracht. --
Da sie nun bald der öden Schattenwelt ent- stiegen waren; so zog die zärtliche Besorgniß, und der zweifelnde Gedanke, ob sein geliebtes Weib ihm wirklich folge, den Blick des Gatten, ihm selbst fast unbewußt, ein einzigesmal zurück, und nun war Eurydice auf immer für ihn verlohren, -- ihr Bild verschwand in Nacht und Dunkel, -- und seine ganze süße Hofnung war ein Traum.
Die Freude seines Lebens war nun entflo- hen; -- die Leyer schwieg; -- das wütende Ge- schrei der Bachantinnen erscholl auf dem thraci- schen Gebirge; -- sie zürnten auf den Dichter, dem nach Eurydicens Verlust das ganze weibliche Geschlecht verhaßt war; -- von den schrecklichbe- geisterten Mänaden zerfleischt und in Stücken ge- rissen ward der Göttersohn ein Opfer ihrer rasen- den Wuth. --
N 2
Demohngeachtet war Thracien auch das Va- terland des Orpheus, der durch ſeinen Geſang und durch die Toͤne ſeiner Leyer die Wildheit der Thiere des Waldes zaͤhmte, und Baͤume und Felſen ſich bewegen ließ.
Durch ſein maͤchtiges Saitenſpiel ließ ſelbſt der Orkus ſich bewegen, ihm ſeine Gattin Eury- dice zuruͤckzugeben, nur ſollte er nicht eher nach ihr ſich umſehen, als bis er ſie wieder auf die Oberwelt zum Anblick des Tages und des himmli- ſchen Lichts gebracht. —
Da ſie nun bald der oͤden Schattenwelt ent- ſtiegen waren; ſo zog die zaͤrtliche Beſorgniß, und der zweifelnde Gedanke, ob ſein geliebtes Weib ihm wirklich folge, den Blick des Gatten, ihm ſelbſt faſt unbewußt, ein einzigesmal zuruͤck, und nun war Eurydice auf immer fuͤr ihn verlohren, — ihr Bild verſchwand in Nacht und Dunkel, — und ſeine ganze ſuͤße Hofnung war ein Traum.
Die Freude ſeines Lebens war nun entflo- hen; — die Leyer ſchwieg; — das wuͤtende Ge- ſchrei der Bachantinnen erſcholl auf dem thraci- ſchen Gebirge; — ſie zuͤrnten auf den Dichter, dem nach Eurydicens Verluſt das ganze weibliche Geſchlecht verhaßt war; — von den ſchrecklichbe- geiſterten Maͤnaden zerfleiſcht und in Stuͤcken ge- riſſen ward der Goͤtterſohn ein Opfer ihrer raſen- den Wuth. —
N 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0243"n="195"/><p>Demohngeachtet war Thracien auch das Va-<lb/>
terland des Orpheus, der durch ſeinen Geſang und<lb/>
durch die Toͤne ſeiner Leyer die Wildheit der Thiere<lb/>
des Waldes zaͤhmte, und Baͤume und Felſen ſich<lb/>
bewegen ließ.</p><lb/><p>Durch ſein maͤchtiges Saitenſpiel ließ ſelbſt<lb/>
der Orkus ſich bewegen, ihm ſeine Gattin Eury-<lb/>
dice zuruͤckzugeben, nur ſollte er nicht eher nach<lb/>
ihr ſich umſehen, als bis er ſie wieder auf die<lb/>
Oberwelt zum Anblick des Tages und des himmli-<lb/>ſchen Lichts gebracht. —</p><lb/><p>Da ſie nun bald der oͤden Schattenwelt ent-<lb/>ſtiegen waren; ſo zog die zaͤrtliche Beſorgniß, und<lb/>
der zweifelnde Gedanke, ob ſein geliebtes Weib<lb/>
ihm wirklich folge, den Blick des Gatten, ihm<lb/>ſelbſt faſt unbewußt, ein einzigesmal zuruͤck, und<lb/>
nun war Eurydice auf immer fuͤr ihn verlohren, —<lb/>
ihr Bild verſchwand in Nacht und Dunkel, — und<lb/>ſeine ganze ſuͤße Hofnung <hirendition="#fr">war ein Traum.</hi></p><lb/><p>Die Freude ſeines Lebens war nun entflo-<lb/>
hen; — die Leyer ſchwieg; — das wuͤtende Ge-<lb/>ſchrei der Bachantinnen erſcholl auf dem <hirendition="#fr">thraci-<lb/>ſchen</hi> Gebirge; —ſie zuͤrnten auf den Dichter,<lb/>
dem nach Eurydicens Verluſt das ganze weibliche<lb/>
Geſchlecht verhaßt war; — von den ſchrecklichbe-<lb/>
geiſterten Maͤnaden zerfleiſcht und in Stuͤcken ge-<lb/>
riſſen ward der Goͤtterſohn ein Opfer ihrer raſen-<lb/>
den Wuth. —</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="sig">N 2</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[195/0243]
Demohngeachtet war Thracien auch das Va-
terland des Orpheus, der durch ſeinen Geſang und
durch die Toͤne ſeiner Leyer die Wildheit der Thiere
des Waldes zaͤhmte, und Baͤume und Felſen ſich
bewegen ließ.
Durch ſein maͤchtiges Saitenſpiel ließ ſelbſt
der Orkus ſich bewegen, ihm ſeine Gattin Eury-
dice zuruͤckzugeben, nur ſollte er nicht eher nach
ihr ſich umſehen, als bis er ſie wieder auf die
Oberwelt zum Anblick des Tages und des himmli-
ſchen Lichts gebracht. —
Da ſie nun bald der oͤden Schattenwelt ent-
ſtiegen waren; ſo zog die zaͤrtliche Beſorgniß, und
der zweifelnde Gedanke, ob ſein geliebtes Weib
ihm wirklich folge, den Blick des Gatten, ihm
ſelbſt faſt unbewußt, ein einzigesmal zuruͤck, und
nun war Eurydice auf immer fuͤr ihn verlohren, —
ihr Bild verſchwand in Nacht und Dunkel, — und
ſeine ganze ſuͤße Hofnung war ein Traum.
Die Freude ſeines Lebens war nun entflo-
hen; — die Leyer ſchwieg; — das wuͤtende Ge-
ſchrei der Bachantinnen erſcholl auf dem thraci-
ſchen Gebirge; — ſie zuͤrnten auf den Dichter,
dem nach Eurydicens Verluſt das ganze weibliche
Geſchlecht verhaßt war; — von den ſchrecklichbe-
geiſterten Maͤnaden zerfleiſcht und in Stuͤcken ge-
riſſen ward der Goͤtterſohn ein Opfer ihrer raſen-
den Wuth. —
N 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/243>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.