denkend in die Einsamkeit, und setzte sich in Be- trachtungen vertieft auf einem Scheidewege nie- der. -- Hier war es, wo die Wollust und die Tugend ihm erschienen, wovon die erstre ihm jeg- lichen Genuß einer frohen sorgenfreien Jugend an- bot, wenn er ihr folgen wollte, -- die letztre ihm zwar mühevolle Tage verkündigte, aber in der Zukunft Ruhm und Unsterblichkeit verhieß, wenn er sie zur Führerin wählte.
Die Tugend siegte in diesem Wettstreit; der Jüngling folgte ihr mit sicherm Schritte, fest entschlossen, jedes Schicksal, das ihm bevorstehe, mit Muth und Standhaftigkeit zu tragen, sich keiner Last zu weigern, und keine Arbeit, sey sie noch so schwer, zu scheuen. --
Die Eifersucht der Juno, die nicht ruhte, hatte schon dem Amphitryo selber Furcht und Arg- wohn eingehaucht, der den jungen Herkules an den Hof des Eurystheus nach Mycene schickte, wo ihm von Zeit zu Zeit die gefährlichsten Unter- nehmungen und die ungeheuersten Arbeiten aufge- tragen wurden, die seinen Muth und seine Stand- haftigkeit auf die höchste Probe setzten.
Als nun Herkules auf seiner Reise das Orakel zu Delphi wegen seines künftigen Schicksals frag- te; so gab die Pythia ihm zur Antwort: zwölf Arbeiten müsse er auf des Eurystheus Befehl voll-
denkend in die Einſamkeit, und ſetzte ſich in Be- trachtungen vertieft auf einem Scheidewege nie- der. — Hier war es, wo die Wolluſt und die Tugend ihm erſchienen, wovon die erſtre ihm jeg- lichen Genuß einer frohen ſorgenfreien Jugend an- bot, wenn er ihr folgen wollte, — die letztre ihm zwar muͤhevolle Tage verkuͤndigte, aber in der Zukunft Ruhm und Unſterblichkeit verhieß, wenn er ſie zur Fuͤhrerin waͤhlte.
Die Tugend ſiegte in dieſem Wettſtreit; der Juͤngling folgte ihr mit ſicherm Schritte, feſt entſchloſſen, jedes Schickſal, das ihm bevorſtehe, mit Muth und Standhaftigkeit zu tragen, ſich keiner Laſt zu weigern, und keine Arbeit, ſey ſie noch ſo ſchwer, zu ſcheuen. —
Die Eiferſucht der Juno, die nicht ruhte, hatte ſchon dem Amphitryo ſelber Furcht und Arg- wohn eingehaucht, der den jungen Herkules an den Hof des Euryſtheus nach Mycene ſchickte, wo ihm von Zeit zu Zeit die gefaͤhrlichſten Unter- nehmungen und die ungeheuerſten Arbeiten aufge- tragen wurden, die ſeinen Muth und ſeine Stand- haftigkeit auf die hoͤchſte Probe ſetzten.
Als nun Herkules auf ſeiner Reiſe das Orakel zu Delphi wegen ſeines kuͤnftigen Schickſals frag- te; ſo gab die Pythia ihm zur Antwort: zwoͤlf Arbeiten muͤſſe er auf des Euryſtheus Befehl voll-
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denkend in die Einſamkeit, und ſetzte ſich in Be-
trachtungen vertieft auf einem Scheidewege nie-
der. — Hier war es, wo die Wolluſt und die
Tugend ihm erſchienen, wovon die erſtre ihm jeg-
lichen Genuß einer frohen ſorgenfreien Jugend an-
bot, wenn er ihr folgen wollte, — die letztre ihm
zwar muͤhevolle Tage verkuͤndigte, aber in der
Zukunft Ruhm und Unſterblichkeit verhieß, wenn
er ſie zur Fuͤhrerin waͤhlte.
Die Tugend ſiegte in dieſem Wettſtreit; der
Juͤngling folgte ihr mit ſicherm Schritte, feſt
entſchloſſen, jedes Schickſal, das ihm bevorſtehe,
mit Muth und Standhaftigkeit zu tragen, ſich
keiner Laſt zu weigern, und keine Arbeit, ſey ſie
noch ſo ſchwer, zu ſcheuen. —
Die Eiferſucht der Juno, die nicht ruhte,
hatte ſchon dem Amphitryo ſelber Furcht und Arg-
wohn eingehaucht, der den jungen Herkules an
den Hof des Euryſtheus nach Mycene ſchickte,
wo ihm von Zeit zu Zeit die gefaͤhrlichſten Unter-
nehmungen und die ungeheuerſten Arbeiten aufge-
tragen wurden, die ſeinen Muth und ſeine Stand-
haftigkeit auf die hoͤchſte Probe ſetzten.
Als nun Herkules auf ſeiner Reiſe das Orakel
zu Delphi wegen ſeines kuͤnftigen Schickſals frag-
te; ſo gab die Pythia ihm zur Antwort: zwoͤlf
Arbeiten muͤſſe er auf des Euryſtheus Befehl voll-
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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/274>, abgerufen am 24.11.2024.
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