Als Ulysses auf den Befehl der Circe zu den Schatten stieg, versammleten sich um die Grube, in welche er das schwarze Blut der Opferthiere fließen ließ, die Seelen der abgeschiednen Jüng- linge, Jungfrauen, Männer im Kriege getödtet, und Greise, die vieles erlitten hatten. -- Seine Mutter erschien ihm, und als er sie umarmen wollte, wich ihr Schatten zurück; sie lehrte ihn, daß die Seele, sobald der Körper zerstört ist, wie ein Traum, davon flieht. Der Schatten des Agamemnon streckte nach dem Ulyß seine Arme aus, aber in den Gliedern war keine Kraft mehr. -- Ulysses redete den Schatten des Achilles an, und prieß ihn glücklich, weil er im Leben be- rühmt gewesen, und nun auch geehrt unter den Todten sey; da antwortete Achill, er wolle, wenn es ihm möglich wäre, ins Leben zurückzu- kehren, lieber kümmerlich einem armen Ta- gelöhner selbst um Tagelohn dienen, als hier in der Unterwelt über alle Todten herr- schen. Auch des Herkules Schattenbild sah Ulysses hier, obgleich er selber unter den unsterb- lichen Göttern seinen Sitz hat.
Aeneas, welcher, um seinen Vater Anchi- ses zu sehen, zu den Schatten stieg, hörte, sobald er vom Charon über den Fluß gesetzt, am jenseiti- gen Ufer ausstieg, das Geschrei und Weinen der Kinder, die gleich nach ihrer Geburt gestorben
Als Ulyſſes auf den Befehl der Circe zu den Schatten ſtieg, verſammleten ſich um die Grube, in welche er das ſchwarze Blut der Opferthiere fließen ließ, die Seelen der abgeſchiednen Juͤng- linge, Jungfrauen, Maͤnner im Kriege getoͤdtet, und Greiſe, die vieles erlitten hatten. — Seine Mutter erſchien ihm, und als er ſie umarmen wollte, wich ihr Schatten zuruͤck; ſie lehrte ihn, daß die Seele, ſobald der Koͤrper zerſtoͤrt iſt, wie ein Traum, davon flieht. Der Schatten des Agamemnon ſtreckte nach dem Ulyß ſeine Arme aus, aber in den Gliedern war keine Kraft mehr. — Ulyſſes redete den Schatten des Achilles an, und prieß ihn gluͤcklich, weil er im Leben be- ruͤhmt geweſen, und nun auch geehrt unter den Todten ſey; da antwortete Achill, er wolle, wenn es ihm moͤglich waͤre, ins Leben zuruͤckzu- kehren, lieber kuͤmmerlich einem armen Ta- geloͤhner ſelbſt um Tagelohn dienen, als hier in der Unterwelt uͤber alle Todten herr- ſchen. Auch des Herkules Schattenbild ſah Ulyſſes hier, obgleich er ſelber unter den unſterb- lichen Goͤttern ſeinen Sitz hat.
Aeneas, welcher, um ſeinen Vater Anchi- ſes zu ſehen, zu den Schatten ſtieg, hoͤrte, ſobald er vom Charon uͤber den Fluß geſetzt, am jenſeiti- gen Ufer ausſtieg, das Geſchrei und Weinen der Kinder, die gleich nach ihrer Geburt geſtorben
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0464"n="390"/><p>Als Ulyſſes auf den Befehl der Circe zu den<lb/>
Schatten ſtieg, verſammleten ſich um die Grube,<lb/>
in welche er das ſchwarze Blut der Opferthiere<lb/>
fließen ließ, die Seelen der abgeſchiednen Juͤng-<lb/>
linge, Jungfrauen, Maͤnner im Kriege getoͤdtet,<lb/>
und Greiſe, die vieles erlitten hatten. — Seine<lb/>
Mutter erſchien ihm, und als er ſie umarmen<lb/>
wollte, wich ihr Schatten zuruͤck; ſie lehrte ihn,<lb/>
daß die Seele, ſobald der Koͤrper zerſtoͤrt iſt, <hirendition="#fr">wie<lb/>
ein Traum,</hi> davon flieht. Der Schatten des<lb/>
Agamemnon ſtreckte nach dem Ulyß ſeine Arme<lb/>
aus, aber <hirendition="#fr">in den Gliedern war keine Kraft<lb/>
mehr.</hi>— Ulyſſes redete den Schatten des Achilles<lb/>
an, und prieß ihn gluͤcklich, weil er im Leben be-<lb/>
ruͤhmt geweſen, und nun auch geehrt unter den<lb/>
Todten ſey; da antwortete Achill, <hirendition="#fr">er wolle, wenn<lb/>
es ihm moͤglich waͤre, ins Leben zuruͤckzu-<lb/>
kehren, lieber kuͤmmerlich einem armen Ta-<lb/>
geloͤhner ſelbſt um Tagelohn dienen, als<lb/>
hier in der Unterwelt uͤber alle Todten herr-<lb/>ſchen.</hi> Auch des <hirendition="#fr">Herkules</hi> Schattenbild ſah<lb/>
Ulyſſes hier, obgleich er <hirendition="#fr">ſelber</hi> unter den unſterb-<lb/>
lichen Goͤttern ſeinen Sitz hat.</p><lb/><p><hirendition="#fr">Aeneas,</hi> welcher, um ſeinen Vater <hirendition="#fr">Anchi-<lb/>ſes</hi> zu ſehen, zu den Schatten ſtieg, hoͤrte, ſobald<lb/>
er vom Charon uͤber den Fluß geſetzt, am jenſeiti-<lb/>
gen Ufer ausſtieg, das Geſchrei und Weinen der<lb/>
Kinder, die gleich nach ihrer Geburt geſtorben<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[390/0464]
Als Ulyſſes auf den Befehl der Circe zu den
Schatten ſtieg, verſammleten ſich um die Grube,
in welche er das ſchwarze Blut der Opferthiere
fließen ließ, die Seelen der abgeſchiednen Juͤng-
linge, Jungfrauen, Maͤnner im Kriege getoͤdtet,
und Greiſe, die vieles erlitten hatten. — Seine
Mutter erſchien ihm, und als er ſie umarmen
wollte, wich ihr Schatten zuruͤck; ſie lehrte ihn,
daß die Seele, ſobald der Koͤrper zerſtoͤrt iſt, wie
ein Traum, davon flieht. Der Schatten des
Agamemnon ſtreckte nach dem Ulyß ſeine Arme
aus, aber in den Gliedern war keine Kraft
mehr. — Ulyſſes redete den Schatten des Achilles
an, und prieß ihn gluͤcklich, weil er im Leben be-
ruͤhmt geweſen, und nun auch geehrt unter den
Todten ſey; da antwortete Achill, er wolle, wenn
es ihm moͤglich waͤre, ins Leben zuruͤckzu-
kehren, lieber kuͤmmerlich einem armen Ta-
geloͤhner ſelbſt um Tagelohn dienen, als
hier in der Unterwelt uͤber alle Todten herr-
ſchen. Auch des Herkules Schattenbild ſah
Ulyſſes hier, obgleich er ſelber unter den unſterb-
lichen Goͤttern ſeinen Sitz hat.
Aeneas, welcher, um ſeinen Vater Anchi-
ſes zu ſehen, zu den Schatten ſtieg, hoͤrte, ſobald
er vom Charon uͤber den Fluß geſetzt, am jenſeiti-
gen Ufer ausſtieg, das Geſchrei und Weinen der
Kinder, die gleich nach ihrer Geburt geſtorben
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/464>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.