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Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

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Als Ulysses auf den Befehl der Circe zu den
Schatten stieg, versammleten sich um die Grube,
in welche er das schwarze Blut der Opferthiere
fließen ließ, die Seelen der abgeschiednen Jüng-
linge, Jungfrauen, Männer im Kriege getödtet,
und Greise, die vieles erlitten hatten. -- Seine
Mutter erschien ihm, und als er sie umarmen
wollte, wich ihr Schatten zurück; sie lehrte ihn,
daß die Seele, sobald der Körper zerstört ist, wie
ein Traum,
davon flieht. Der Schatten des
Agamemnon streckte nach dem Ulyß seine Arme
aus, aber in den Gliedern war keine Kraft
mehr.
-- Ulysses redete den Schatten des Achilles
an, und prieß ihn glücklich, weil er im Leben be-
rühmt gewesen, und nun auch geehrt unter den
Todten sey; da antwortete Achill, er wolle, wenn
es ihm möglich wäre, ins Leben zurückzu-
kehren, lieber kümmerlich einem armen Ta-
gelöhner selbst um Tagelohn dienen, als
hier in der Unterwelt über alle Todten herr-
schen.
Auch des Herkules Schattenbild sah
Ulysses hier, obgleich er selber unter den unsterb-
lichen Göttern seinen Sitz hat.

Aeneas, welcher, um seinen Vater Anchi-
ses
zu sehen, zu den Schatten stieg, hörte, sobald
er vom Charon über den Fluß gesetzt, am jenseiti-
gen Ufer ausstieg, das Geschrei und Weinen der
Kinder, die gleich nach ihrer Geburt gestorben

Als Ulyſſes auf den Befehl der Circe zu den
Schatten ſtieg, verſammleten ſich um die Grube,
in welche er das ſchwarze Blut der Opferthiere
fließen ließ, die Seelen der abgeſchiednen Juͤng-
linge, Jungfrauen, Maͤnner im Kriege getoͤdtet,
und Greiſe, die vieles erlitten hatten. — Seine
Mutter erſchien ihm, und als er ſie umarmen
wollte, wich ihr Schatten zuruͤck; ſie lehrte ihn,
daß die Seele, ſobald der Koͤrper zerſtoͤrt iſt, wie
ein Traum,
davon flieht. Der Schatten des
Agamemnon ſtreckte nach dem Ulyß ſeine Arme
aus, aber in den Gliedern war keine Kraft
mehr.
— Ulyſſes redete den Schatten des Achilles
an, und prieß ihn gluͤcklich, weil er im Leben be-
ruͤhmt geweſen, und nun auch geehrt unter den
Todten ſey; da antwortete Achill, er wolle, wenn
es ihm moͤglich waͤre, ins Leben zuruͤckzu-
kehren, lieber kuͤmmerlich einem armen Ta-
geloͤhner ſelbſt um Tagelohn dienen, als
hier in der Unterwelt uͤber alle Todten herr-
ſchen.
Auch des Herkules Schattenbild ſah
Ulyſſes hier, obgleich er ſelber unter den unſterb-
lichen Goͤttern ſeinen Sitz hat.

Aeneas, welcher, um ſeinen Vater Anchi-
ſes
zu ſehen, zu den Schatten ſtieg, hoͤrte, ſobald
er vom Charon uͤber den Fluß geſetzt, am jenſeiti-
gen Ufer ausſtieg, das Geſchrei und Weinen der
Kinder, die gleich nach ihrer Geburt geſtorben

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[390/0464] Als Ulyſſes auf den Befehl der Circe zu den Schatten ſtieg, verſammleten ſich um die Grube, in welche er das ſchwarze Blut der Opferthiere fließen ließ, die Seelen der abgeſchiednen Juͤng- linge, Jungfrauen, Maͤnner im Kriege getoͤdtet, und Greiſe, die vieles erlitten hatten. — Seine Mutter erſchien ihm, und als er ſie umarmen wollte, wich ihr Schatten zuruͤck; ſie lehrte ihn, daß die Seele, ſobald der Koͤrper zerſtoͤrt iſt, wie ein Traum, davon flieht. Der Schatten des Agamemnon ſtreckte nach dem Ulyß ſeine Arme aus, aber in den Gliedern war keine Kraft mehr. — Ulyſſes redete den Schatten des Achilles an, und prieß ihn gluͤcklich, weil er im Leben be- ruͤhmt geweſen, und nun auch geehrt unter den Todten ſey; da antwortete Achill, er wolle, wenn es ihm moͤglich waͤre, ins Leben zuruͤckzu- kehren, lieber kuͤmmerlich einem armen Ta- geloͤhner ſelbſt um Tagelohn dienen, als hier in der Unterwelt uͤber alle Todten herr- ſchen. Auch des Herkules Schattenbild ſah Ulyſſes hier, obgleich er ſelber unter den unſterb- lichen Goͤttern ſeinen Sitz hat. Aeneas, welcher, um ſeinen Vater Anchi- ſes zu ſehen, zu den Schatten ſtieg, hoͤrte, ſobald er vom Charon uͤber den Fluß geſetzt, am jenſeiti- gen Ufer ausſtieg, das Geſchrei und Weinen der Kinder, die gleich nach ihrer Geburt geſtorben

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/464>, abgerufen am 24.11.2024.